Wie es jetzt stand, mußten die Überlebenden der Schonerbesatzung, ein wüster Haufen, in Kürze ein rasches, unrühmliches Ende finden. Wieviele Menschen hatten sie auf dem Gewissen? Wieviele Schiffe hatten sie ausgeraubt, wieviele Besatzungen über die Klinge springen lassen oder zu menschlichen Wracks gemacht wie Potter, den Segelmacher aus Bristol? Da kamen sie vergleichsweise gut weg, wenn sie aufgeknüpft wurden.
Bolitho ging hinaus, noch immer tief in Gedanken über Recht und Unrecht bei Schnelljustiz.
An Deck war es frisch; die Tageshitze hatte noch nicht eingesetzt, und er machte, solange noch Zeit dazu war, einen kleinen Spaziergang an Luv. In dem schweren Galarock würde ihm bald der Schweiß ausbrechen, wenn er sich nicht im Schatten der vollen Segel hielt.
Fowlar tippte grüßend an die Stirn und fragte unsicher:»Darf ich Ihnen danken, Sir?»
«Sie haben es zweifellos verdient, Mr. Fowlar«, lächelte Bolitho. Er hatte den Steuermannsmaat zum Vizeleutnant befördert, um die Lücke zu füllen, die Davy an Bord hinterlassen hatte. Wäre der junge Keen mit ihnen gesegelt, hätte er das Glück gehabt. Nun würde Fowlars früheren Rang ein anderer bekommen. Für den würde wieder einer nachrücken, und so ging es immer weiter — wie auf allen Schiffen.
Herrick nahm Fowlar beiseite und wartete, bis Bolitho seinen Spaziergang wieder aufgenommen hatte.»Lassen Sie sich warnen: Sprechen Sie den Captain niemals an, wenn er seinen Spaziergang macht. «Er mußte über Fowlars Verwirrung lächeln.»Außer natürlich, wenn etwas wirklich Wichtiges vorliegt; aber Ihre Beförderung gehört nicht dazu. «Er klopfte ihm auf die Schulter.»Trotzdem — meine Gratulation!»
Bolitho hatte die beiden schon vergessen. Er hatte den dunklen Streifen Land gesehen, der gerade über der glitzernden Kimm auftauchte, und dachte darüber nach, was er dort wohl vorfinden würde. Aus der Entfernung sah es wie eine einzige weite Landmasse aus, aber er wußte, es war in Wirklichkeit eine Ansammlung kleiner Inseln, manche noch kleiner als die, vor der sie den Schoner aufgebracht hatten. Die Holländer hatten sie ursprünglich wegen ihrer günstigen Struktur und Lage okkupiert. Schiffe, die im Innern dieses Archipels ankerten, konnten bei jedem Wind nach jeder Richtung in See gehen und sich unter mehreren Passagen die kürzeste und beste aussuchen. Die Festung war zum Schutz vor Marodeuren gebaut worden, auch vor solchen wie dem, welcher jetzt selbst darin saß und jedem Staat, jeder Flagge Trotz bot. Die Holländer zählten die Benuas immer noch zu ihrem Besitz, aber wohl nur der Form halber; zweifellos waren sie froh, diesen Archipel mit seiner unheilvollen Geschichte los zu sein.
Unter der Back unterhielt sich der Segelmacher mit Potter. Ob der sich wohl jemals wieder richtig erholen würde? Es mochte ihm nicht leicht fallen, schon wieder so dicht bei Muljadis Festung zu sein. Aber außer dem Gefangenen war er der einzige, der gesehen hatte, was hinter den schützenden Riffen und Sandbänken lag.
Trotz seines schweren Rockes überlief Bolitho ein Schauer.
Wenn er nun seinen Gegner falsch eingeschätzt hatte? Dann konnte aus ihm ein zweiter Potter we rden, ein elendes, gebrochenes Wrack, so gut wie tot für seine Schwestern und alle seine Bekannten in England. Und Viola Raymond? Wie lange würde sie brauchen, um ihn zu vergessen?
Er schüttelte diese Stimmung ab und sagte:»Mr. Soames! Sie können auf Gefechtsstationen trommeln lassen. «Er sah, wie eine Welle der Erregung die Männer an Deck durchlief.»Üben Sie zuerst mit der Backbordbatterie!»
Allday kam das schiefliegende Deck herauf und drehte den Degen in den Händen, bevor er ihn Bolitho umschnallte.
«Sie nehmen mich doch mit, Captain?«Er fragte ganz ruhig, aber Bolitho sah an seinen Augen, wie gespannt er war.«»Diesmal nicht, Allday.»
Befehle schrillten durch das Mannschaftsdeck, atemlos rannten die Trommeljungen der Marineinfanterie zur Achterdeckreling, zogen die Schlegel aus dem weißen Koppel und begannen ihren drängenden Wirbel.
Allday beharrte:»Aber Sie werden mich brauchen!»
«Ja. «Bolitho blickte ihn ernst an.»Das werde ich immer… «Aber im Wirbeln der Trommeln und im Getrampel der Männer, die wieder einmal auf Gefechtsstation eilten, gingen die letzten Worte unter.
Bolitho stützte sein Teleskop auf die Finknetze und studierte die einander überschneidenden, kleinen Inseln. Den ganzen Morgen und auch während der Vormittagswache war die Undine stetig nähergekreuzt. Er hatte sich jede auffällige Einzelheit notiert und die Notizen mit dem verglichen, was er bereits wußte. Die Hauptpassage durch die Inseln öffnete sich nach Süden zu, und fast in der Mitte der Zufahrt lag ein mächtiger Felsbuckel, auf dem sich die Festung erhob. Selbst jetzt, weniger als zwei Meilen von den ersten Inseln entfernt, war es unmöglich zu sehen, wo die Festung begann und wo der zerklüftete Felsgrat endete.
«Wir ändern noch einmal Kurs, Mr. Herrick. «Bolitho senkte das Glas und wischte sich mit dem Handrücken das Auge.»Steuern Sie Ostnordost.»
Die Männer an den Backbord-Zwölfpfündern visierten durch die offenen Stückpforten, in denen die Kanonen bereits in der Sonne glänzten, als ob sie eben abgefeuert wären.
«An die Brassen!«kommandierte Herrick.»Zwei Strich nach Backbord abfallen, Mr. Mudge!»
Bolitho hielt Ausschau nach Potters schmächtiger Gestalt. Der stand unter der Back bei den Matrosen, die bei dem Manöver nichts zu tun hatten; als er hochblickte, winkte Bolitho ihn zu sich.
Dann schlüpfte er aus seinem schweren Uniformrock, nahm den Hut ab, reichte beides Allday und sagte dabei so gelassen, wie es ihm möglich war:»Ich entere selbst auf.»
Allday schwieg dazu; er kannte Bolitho gut genug, um zu wissen, was ihn das kostete.
Potter kam eilig aufs Achterdeck und grüßte.»Sir?»
«Traust du es dir zu, mit mir in den Großmast aufzuentern?»
Potter blickte ihn verständnislos an.»Ja, Sir, wenn Sie meinen… »
«Ostnordost liegt an, Sir«, meldete Herrick. Sein Blick wanderte von Bolitho zur Großrahe, die fast mitschiffs über dem Deck stand und unter dem Winddruck auf das mächtige Segel vibrierte.
Bolitho schnallte seinen Degen ab und reichte ihn Allday.»Vielleicht brauche ich heute deine Augen, Potter.»
Im Bewußtsein, daß jedermann an Deck ihm zusah, schwang er sich in die Luvwanten und begann mit so festen Griffen aufzuentern, daß der Schmerz in seinen Händen stärker war als sein Schwindelgefühl. Immer weiter hinauf, immer mit dem Blick auf die Püttingswanten, die den mächtigen Großmast stützten, von dem aus zwei Seesoldaten neugierig, aber mit unbewegten Gesichtern seinen Aufstieg beobachteten.
Er biß die Zähne zusammen und zwang sich, nicht nach unten zu sehen. Seine Höhenangst betrachtete er als eine besondere Gemeinheit des Schicksals. Mit zwölf Jahren war er zur See gegangen und hatte Jahr um Jahr etwas dazugelernt; aus seiner kindlichen Begeisterung für die Marine war echtes Verständnis geworden, das man schon Liebe nennen konnte. Er war mit der Seekrankheit fertiggeworden, hatte gelernt, Einsamkeit und Kummer vor seinen Kameraden zu verbergen — zum Beispiel damals, als seine Mutter starb, während er auf hoher See war. Auch sein Vater war begraben worden, als er im Karibischen Meer gegen Franzosen und Amerikaner kämpfte. In mancher Seeschlacht hatte er furchtbare Verwundungen und qualvolles Sterben gesehen; sein eigener Körper trug Narben genug zum Beweis dafür, daß Überleben und Tod nur um Haaresbreite auseinanderlagen. Warum in aller Welt war er mit dieser Höhenangst geschlagen? Die Webeleinen schnitten in seine Fußsohlen, als er sich um die Püttingswanten schwang und nur an Fingern und Zehen hing.
Bewundernd sagte der eine Marineinfanterist:»Bei Gott, Sir, Sie haben aber schnell aufgeentert!»
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