Als sie aufwachte, wanderte der Tag in einem undurchsichtigen grauen Wolkenmantel heran, aus dem ein Schleier aus Nieselregen in die Baumkronen niederschwebte. Sie packte die Decke ein, führte das Pferd aus der Höhle und ritt weiter nach Westen, weil sie sich erinnerte, dass in dieser Richtung ein kleiner Bach verlief. Seine Quelle lag auf einem Höhenzug, den sie überqueren musste. Dahinter begann das Gebiet der Amsivarier, deren angebliche Unbotmäßigkeit gegenüber Rom den Vorwand für den Umweg der drei Legionen geliefert hatte. Fastrada rechnete damit, dort auf den Weg zu stoßen, den das Heer genommen hatte, das sich wie eine riesige Schnecke durch das Land schob. Mehr als zwanzigtausend Menschen, dazu Tausende von Pferden und Wagen mussten eine Spur hinterlassen, die noch nach Tagen und Wochen, wenn nicht gar nach Monaten zu sehen war. Sie stellte sich vor, wie sie das Ende des Zuges erreichte, um sich bei verständnislos dreinblickenden Trossleuten nach einem Caius Cornelius Castor durchzufragen. Würde sie dort sein, bevor der Angriff begann?
Irgendwann fand sie tatsächlich den Bach und folgte seinem Verlauf nach Norden. Sie kam nur langsam voran. Mehrmals musste sie in einem weiten Bogen Siedlungen umgehen. Einmal wurde sie von einer Gruppe von Reitern verfolgt, und als sie sie endlich abgeschüttelt hatte, setzte bereits die Dämmerung ein. Die Nacht verbrachte sie in einem Hünengrab, dessen gewaltiger Deckstein immerhin Schutz vor dem Regen bot.
Am nächsten Tag wurde es nicht besser. Immer öfter musste sie kleinen Gruppen von Bewaffneten ausweichen, die alle in die gleiche Richtung unterwegs waren wie sie. Die Schlinge zog unerbittlich zu. Ob sie es noch rechtzeitig schaffen würde? Als sie den Höhenzug erreichte, brach erneut die Nacht herein, und diesmal fand sie einen Unterschlupf in einem hölzernen Turm, der am höchsten Punkt der Hügelkette stand und von einem Graben umgeben war. Ein verlassener Beobachtungsturm der Römer.
Gegen Mittag des folgenden Tages stieß sie endlich auf die Spuren, nach denen sie so lange Ausschau gehalten hatte: eine Schneise im Wald, in der zahllose Furchen von Wagenrädern und Abdrücke von Pferdehufen zu sehen waren. Am Rand des Weges lagen gefällte Bäume und herausgerissenes Wurzelwerk. Regen sammelte sich in tiefen Pfützen. Es mussten Tausende von Hufen, Rädern und Füßen gewesen sein, die den Pfad derart umgepflügt hatten. Kein Zweifel: Dies war die Schneckenspur des römischen Heeres. Wann waren sie hier vorbeigezogen? Vor ein paar Stunden? Gestern? Es war merkwürdig, sich vorzustellen, dass jeder dieser Hufabdrücke von einem Pferd stammen konnte, das Caius getragen hatte. Fastrada fühlte sich ihm plötzlich sehr nahe, gleichzeitig schauderte sie bei dem Gedanken, dass die Gefahr ihn schon fast erreicht haben musste wie ein Raubtier, das sich zwischen den Bäumen an sein Opfer angepirscht hatte und nun dazu übergegangen war, in großen Sätzen heranzujagen. Fastrada trieb ihr Pferd wieder an und folgte in leichtem Trab der Spur etwas abseits der Schneise.
Immer wieder musste sie weite Schleifen reiten, um nicht von den Männern entdeckt zu werden, deren Stimmen mal vor ihr, mal neben ihr durch den Wald echoten. Einmal fand sie auf einem bewaldeten Hügelkamm oberhalb der Schneise eine Feuerstelle unter einem mit Laub getarnten Bretterverschlag. Wahrscheinlich hatte hier ein Beobachtungsposten gesessen, um den Vorbeimarsch des Heeres zu melden. Sie stieg ab und hielt eine Hand über die Asche. Sie war noch warm.
Am Abend des dritten Tages verließen Fastrada allmählich die Kräfte. Irgendwann tauchte abseits des Pfades auf halber Höhe einer kleinen Erhebung eine Hütte auf. Vorsichtig saß Fastrada ab, legte die Zügel des Pferdes um einen Ast und näherte sich dem kleinen Haus. Sie hatte Hunger, und ihr Proviant war so gut wie aufgebraucht. Wenn ich ganz viel Glück habe, dachte sie, finde ich dort ein paar Vorräte. Die Hütte hatte keine Fenster, nur einen schmalen, niedrigen Eingang. Sie war aus Balken, Brettern und Ästen gezimmert, die Zwischenräume waren mit Moos abgedichtet. Fastrada spähte durch den Eingang, dann schlüpfte sie hinein. Drinnen war es ziemlich dunkel, und erst jetzt sah sie in einer Ecke eine Feuerstelle, in der es noch glühte. Jemand musste vor Kurzem hier gewesen sein. Draußen pladderte der Regen und sie spürte die feuchte Kälte auf einmal bis auf die Knochen.
»Sie suchen dich, Mädchen«, ertönte hinter ihr plötzlich eine alte, brüchige Männerstimme.
Fastradas Herz setzte einen Schlag aus. Sie wirbelte herum, wollte in einem ersten Reflex die Flucht ergreifen, hielt dann aber inne.
Ein gebückter Mann mit langen weißen Haaren und Bart stand in der Tür. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er freundlich. »Ich wäre schön dumm, wenn ich über meine Gäste herfallen würde. Ich bekomme eigentlich nie Besuch, gerade genug, um mich ab und zu daran zu erinnern, dass ich noch sprechen kann.«
Der Alte gab die Tür frei und trat in den Raum. Er trug einen braunen Kittel und eine graue Hose aus grobem Stoff, die viele Löcher hatte. Seine Füße steckten in abgewetzten Bundschuhen. Er bückte sich, griff nach ein paar dünnen Zweigen, warf sie auf die Glut und pustete, dass ein kleines Feuer aufloderte. Dann schichtete er dünne Äste über die Zweige und legte einen größeren Klotz darauf. Der warme Feuerschein wuchs an den Wänden entlang und erleuchtete schließlich den ganzen Raum.
»Heute waren zwei cheruskische Krieger da«, sagte er. »Sie fragten nach einem Mädchen in deinem Alter. Ich konnte ihnen nicht weiterhelfen.« Er drehte sich um und lächelte spitzbübisch, wobei viele kleine Falten sein Gesicht überzogen. »Und wenn sie morgen wiederkommen, werde ich ihnen immer noch nicht weiterhelfen können.«
Fastrada erwartete, dass der Alte sie fragte, warum sie allein unterwegs war, aber er tat es nicht. Fast war es, als ob er bereits alles wüsste.
»Du musst Hunger haben«, sagte er. »Hol dein Pferd und bind es hinter der Hütte an. Heute Abend wird dich niemand mehr suchen.«
»Woher weißt du das?«
»Im Dunkeln trauen sie sich nicht hierher.« Plötzlich hob der Alte den Kopf und lauschte, dann stand er mit einer Behändigkeit auf, die gar nicht zu seiner zerbrechlichen Statur passen wollte. Mit drei Schritten war er beim Eingang und trat hinaus in die Dämmerung. Etwas flatterte heran, ein schnelles Flügelschlagen, dann Stille. Als der Alte wieder in den Feuerschein trat, traute Fastrada ihren Augen nicht. Auf seinem Arm saß ein Uhu.
Der Alte lächelte. »Aus dem Nest gefallen«, sagte er, als erklärte das alles. »Am Tag ist er meistens bei mir, und in der Nacht geht er auf die Jagd. Nur heute war es umgekehrt.«
Er machte einen Schritt auf Fastrada zu und hielt ihr den Uhu hin. Der Vogel blickte sie durchdringend mit seinen bernsteinfarbenen Augen an. Er saß leicht vornübergebeugt auf dem Arm des Mannes, der sich einen dicken Lederstreifen auf den Ärmel seines Kittels genäht hatte. »Du kannst ihn anfassen.«
Fastrada streckte eine Hand aus und streichelte vorsichtig das Gefieder.
Es fühlte sich überraschend hart an, wie mit Seide bespanntes Holz. Die Krallen des Uhus sahen riesig aus. Auch sie waren von Federn bedeckt.
»Er hat Federn auf den Krallen, damit er lautlos fliegen kann«, sagte der Alte. »Er erreicht seine Beute, bevor sie ihn hört. Am liebsten geht er auf Igel.«
»Igel?«
»Ja. Der Igel hält sich für unverwundbar. Aber weil er den Uhu nicht kommen hört, wird er gepackt, bevor er die Stacheln aufstellen kann. Der Uhu dreht ihn um und hackt ihm den Bauch auf.« Der Alte lächelte geheimnisvoll, wobei die kleinen Fältchen wieder über sein ganzes Gesicht sprangen wie Risse über dünnes Eis, kurz bevor man einbrach. Er beugte sich zu Fastrada vor. Sein Gesicht und das des Uhus waren auf einer Höhe, sie sahen aus wie ein ungleiches Geschwisterpaar, das in Jahrzehnten des gemeinsamen Schweigens gelernt hat, sich wortlos zu verständigen.
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