»Und wo ist er?«
»Die Frage verstehe ich nicht«, meinte der Detektiv perplex. »Er ist bei Ihnen. Ich habe die ganze Zeit die Tür bewacht, damit er nicht wieder gestohlen wird.«
»Er ist fort!«, rief Direktor Brausewetter und zog rasch die weißen Handschuhe aus.
»Das ist ganz unmöglich«, erklärte der Detektiv. »Der Blaue Salon hat nur diese eine Tür, und die habe ich, seit Sie hineingegangen sind, nicht aus den Augen gelassen.«
»Und warum antwortet er nicht, so laut wir auch rufen?«, fragte Drinkwater nervös. »Er ist verschwunden!«
»Ausgeschlossen.« Der Detektiv war nicht aus der Ruhe zu bringen. »Ihre Krawatte ist auch verschwunden. Trotzdem muss sie noch hier sein.« Tatsächlich. Drinkwaters bunte Krawatte war fort. Keiner hatte es bemerkt.
»Auf geht’s!«, rief Rosa Marzipan zuversichtlich. »In die Knie, meine Herren!«
Und schon krochen vier Männer auf allen vieren im Blauen Salon herum. Schade, dass kein Fotograf in der Nähe war. Es wäre ein prächtiger Schnappschuss geworden.
Rosa Marzipan kroch nicht. Ihr Rock war zu eng. Und sie dachte, vier Männer zu ihren Füßen seien genug. Sie durchforschte die höheren Regionen: die kleinen Ecktische, die Anrichte, den Bücherschrank, die Vitrine mit dem alten Porzellan und den zierlichen Schreibtisch aus der Biedermeierzeit. Eine der Schubladen stand offen und über ihren Rand hing der Zipfel einer bunten Krawatte aus weicher Foulardseide.
Behutsam hob Rosa den Krawattenzipfel hoch und sagte gerührt: »Hier liegt er ja, der Schurke!« Im Nu waren die vier Männer auf den Beinen. Sie drängten zum Schreibtisch, klopften die Hosenbeine sauber und blickten verzückt in die offene Schublade. Mäxchen schlief. Er schlief wie ein Murmeltier. Er wachte auch nicht auf, als der Jokus ihn hochnahm, vorsichtig in die hohle Hand legte und, mit ihm, auf Zehenspitzen den Salon verließ.

Erst als er ihn, oben im Schlafzimmer, in die alte Streichholzschachtel schob, schlug Mäxchen kurz die Augen auf, murmelte: »Ich war ja soo müde«, doch dann schlief er schon wieder.
Im Korridor vorm Schlafzimmer setzte sich der Hoteldetektiv auf einen Stuhl, trank schwarzen Kaffee und hielt Wache. Er durfte nicht schlafen.
Mister Drinkwater fuhr ins Hilton und rechnete. Denn er konnte nicht schlafen.
Und irgendwo in der großen Stadt Berlin saß Monsieur Boileau mit der merkwürdigen Reisegesellschaft aus Paris zusammen. Sie wollten nicht schlafen. Sie hatten finstere Pläne zu besprechen. Für den nächsten Tag. Und mit diesem nächsten Tage, wenn auch nicht gleich mit der merkwürdigen Reisegesellschaft, beginnt ...

Es ist von Geschäften die Rede /Auch Rechnen gehört zu Leben / Das geheimnisvolle Kuvert / Herr von Goethe als Lehrmeister / Das zweite versiegelte Kuvert / Der Handel ist perfekt.
Die geschäftlichen Verhandlungen begannen gleich nach dem Frühstück. Wieder bewachte ein Hoteldetektiv den Blauen Salon, aber es war ein anderer Mann. Denn der Detektiv, der am Abend vorher und während der ganzen Nacht aufgepasst hatte, war natürlich müde und musste schlafen. Sie lösten einander alle zwölf Stunden ab.
Von den Geschäften will ich nur das Notwendigste erzählen, weil ich weiß, dass sich Kinder dafür nicht sonderlich interessieren. Es ist ihnen tausendmal lieber, wenn ein einäugiger Pferdedieb mit dem Lasso eingefangen wird oder wenn der beschwipste Bürgermeister beim Dirigieren der Feuerwehrkapelle in die Pauke fällt. Damit verglichen sind geschäftliche Verhandlungen langweilig.
Trotzdem darf ich um die Konferenz im Blauen Salon keinen Bogen machen. Erstens ist sie für unsere Geschichte wichtig. Und zweitens lernt ihr das Zusammenzählen, Abziehen, Malnehmen und Teilen in der Schule ja nicht nur, um den Lehrern und dem Rektor einen Gefallen zu tun. Wer nicht rechnen kann, wird eines Tages große Augen machen. Man wird ihn manchmal hineinlegen, dass es nur so qualmt. Denn nicht alle guten Rechner, mit denen man im Leben zu tun hat, sind gute Menschen.
»Was ich kaufen will und zu welchem Zweck, habe ich dargelegt«, sagte Mister John F. Drinkwater. »Nun sind Sie an der Reihe, Professor. Nennen Sie mir den Preis.«
»Zeig ihm doch das Kuvert«, riet Mäxchen. Er saß wieder an dem kleinen Tisch oben auf dem großen Tisch und löffelte an einem Ananastörtchen.
»Was für ein Kuvert?«, fragte Drinkwater verwundert.
Rosa Marzipan lächelte spitzbübisch. »Wir Zirkusleute sind ein raffiniertes Völkchen, mein lieber John.«
»Unser Preis steht auf einem Zettel«, erklärte Mäxchen. »Der Zettel steckt in einem Kuvert. Das Kuvert ist versiegelt. Und das versiegelte Kuvert steckt in der Brusttasche meines Vormunds und Partners Jokus von Pokus.«
Direktor Brausewetter war überrascht und gekränkt. »Davon weiß ich ja gar nichts!« Er zog die grauen Handschuhe aus und saß, ganz gegen seine Gewohnheit, etwa eine halbe Stunde mit völlig nackten Händen da. Weil er noch nicht wusste, ob er die weißen oder die schwarzen Handschuhe anziehen solle.
»Lieber Brausewetter«, sagte der Jokus, »der Vertrag zwischen Mister Drinkwater und Ihrem Zirkus ist eine Sache für sich. Damit haben wir nichts zu tun. Auf dem Zettel im Kuvert steht nur der Preis, den Mäxchen, Fräulein Marzipan und ich verlangen.«
»Ihr versiegeltes Kuvert macht mich nervös«, erklärte Mister Drinkwater. »Ich will einen Film in Breitwand und Farbe drehen. Ich will außerdem Mäxchens Geschichte in sechs Fortsetzungen fürs Fernsehen produzieren. Das wird ein teurer Spaß. Deshalb brauche ich die Weltrechte für zehn Jahre. Und deshalb brauche ich Ihr Mäxchen, Sie selber und Ihr Fräulein Braut als Hauptdarsteller für die Monate Oktober und November im Kronebau in München. Das ist doch alles sonnenklar.«
»Der Film wird ja gar kein teurer Spaß«, rief Mäxchen.
»Mein Partner hat Recht«, sagte der Jokus liebenswürdig. »Ihr Film wird, samt der Fernsehserie, keinen Dollar teurer als jeder andere Zirkusfilm. Aber er wird mindestens zehnmal so viel Geld einspielen wie jeder andere. Weil noch nie vorher der Star nur fünf Zentimeter groß war. So etwas hat die Welt noch nicht gesehen, und jeder Erdbewohner wird ins nächste Kino rennen.«
»Sie werden sich dumm und dämlich verdienen!«, rief Mäx-chen begeistert.
Die anderen blickten ihn missbilligend an.
»Schon gut«, brummte Drinkwater. »Also, vielleicht wird unser Film wirklich ein großes Geschäft. Aber was soll das versiegelte Kuvert? Und wo ist es?«
Der Jokus holte einen Briefumschlag aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch und sagte: »Hier.« Doch als der Amerikaner danach greifen wollte, hielt er dessen Hand fest. »Das Kuvert wird erst geöffnet, nachdem Sie den Betrag, den Sie uns freiwillig zahlen wollen, Ihrerseits auf einen Zettel geschrieben haben.«

»Ein bisschen umständlich«, meinte Drinkwater. »Dann öffnen wir Ihr komisches Kuvert, vergleichen die beiden Summen und beginnen zu handeln. Wozu also das ganze Brieftheater?«
»Warten Sie nur ab«, rief Mäxchen. »Das Schönste kommt ja erst.« Er rieb sich vor Vergnügen die Hände.
»Wir werden nicht miteinander handeln«, erklärte der Jokus. »Die Beträge auf Ihrem und auf unserem Zettel sind endgültig. Wenn Ihre Summe höher ist als unsere, ist der Vertrag perfekt.«
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