»Das hätten Sie nie getan«, meinte Rosa Marzipan. »Sie wollten ja unbedingt die Filmrechte haben.«
Drinkwater nickte. »Das ist richtig, Rosie. Trotzdem. Nehmen wir an, ich hätte es riskiert. Ich bin ein ziemlich guter Pokerspieler.«
»Und ich bin ein ziemlich guter Zauberkünstler«, stellte der ’ Jokus fest. »Wir wussten natürlich nicht, wie hoch Sie bieten würden. Denn wir sind Laien. Wenn Sie uns aber nur ein Trinkgeld geboten hätten, dann hätte ein anderes Kuvert auf dem Tisch gelegen.«
»Ein anderes Kuvert? Wo hätten Sie das denn so schnell hergenommen?«
»Ach sind Sie komisch«, rief Mäxchen und zog sich vor Vergnügen an den Haaren. »Es liegt doch längst vor Ihrer Nase!«
Mister Drinkwater blickte auf den Tisch. Tatsächlich. Vor seiner Nase lag ein zweites versiegeltes Kuvert. Er bückte es an, als sei er, trotz seiner Körperlänge (1,90 m), ein Kaninchen und das Kuvert eine Klapperschlange.
»Schauen Sie nach«, schlug der Jokus vor. »Lassen Sie sich nicht stören.«
Mister Drinkwater riss das zweite Kuvert auf, zog den Zettel heraus und wurde weiß wie die Wand. »Da ... das ist doch unmöglich! So viel Geld gibt’s ja gar nicht!«
Der Professor nickte. »Wenn ich gemerkt hätte, dass Sie viel zu wenig böten, hätte ich viel zu viel verlangt. Damit wären unsere Verhandlungen .«
». geplatzt!«, rief Mäxchen fröhlich.
»Und wir hätten auf einen solideren Käufer gewartet«, fügte Rosa Marzipan hinzu.
»Sie sind ein raffiniertes Trio«, sagte Drinkwater. »Und wenn Sie während der Filmaufnahmen nur halb so gut sein sollten wie heute, wird der Film ein Meisterwerk.«
»Er wird eines. Wollen wir wetten?«, fragte Mäxchen.
Drinkwater hob abwehrend die Hände. »Wetten? Mit einem so gerissenen Kerlchen wie dir? Ich werde mich hüten. So reich bin ich nicht.«
»Aber ich bin jetzt reich«, sagte Mäxchen stolz. »Darf ich Sie zu einem Ananastörtchen einladen?«
»Pfui Spinne! Ananastörtchen! Ein doppelter Whisky wäre mir wesentlich lieber.«
»Geht in Ordnung«, meinte Mäxchen. »Nur eines verstehe ich nicht: wieso ein Mann, der so gerne Whisky trinkt, ausgerechnet Drinkwater heißt.«
Eigentlich wollte ich ja im dritten Kapitel noch über das Unternehmen Dornröschen< berichten. Doch die Affäre mit den drei Zetteln und den zwei Kuverts hat mich länger aufgehalten, als ich dachte. Und allzu lange Kapitel mag ich nicht. Deshalb beginnt nun .

Das Unternehmen Dornröschen /HauptwachtmeisterMühlen-schulte erinnert sich dunkel / Der Kahle Otto hat wieder einmal Durst / Was soll das Klavier in der Luft? / Kommissar Steinbeiß packt die Koffer / Zirkus Stilke gastiert in Glasgow und London.
In der Nacht, die diesem Tag folgte, geschah ein Aufsehen erregender Überfall. Er vollzog sich lautlos. Die Täter entkamen unerkannt. Sie raubten weder Geld noch Pelze oder Juwelen. Sie raubten zwei Gefangene. Sie überfielen kein Schmuckgeschäft und kein Bankgebäude. Sie überfielen das Untersuchungsgefängnis.
Das war natürlich eine bodenlose Frechheit. Doch außerdem war es etwas Neues. Und Presse, Funk und Tagesschau knöpften sich die Neuigkeit gründlich vor. Aber das war später und überhaupt zu spät. Man konnte nur noch lachen oder schimpfen.
Der Polizeipräsident schimpfte. Der Gefängnisdirektor trat von seinem Posten zurück. Und Kriminalkommissar Steinbeiß ließ sich beurlauben. Aber was half’s? Die Polizei fühlte sich bis auf die Knochen blamiert.
Dabei hatte der Gefängnisdirektor den Überfall immerhin als Erster entdeckt. Allerdings, schätzungsweise, sechs bis sieben Stunden danach. Aber das war nicht seine Schuld. Denn Doktor Heublein, so hieß er, wohnte ja nicht im Gefängnis, sondern in einem Vorort der Stadt.
Es wird am besten sein, wenn ich alles der Reihe nach erzähle. Das ist noch immer die richtige Methode. Neu ist sie nicht, nein. Doch wozu auch? Neues muss nicht immer richtig und Richtiges muss nicht immer neu sein.
Also: Herr Doktor Heublein fuhr, wie jeden Morgen, Punkt acht Uhr am Gefängniseingang vor und hupte dreimal, damit man ihm das Tor aufschließe. Aber es öffnete niemand. Er wartete und hupte wieder. Nichts rührte sich. Das war noch nie vorgekommen.
Wütend kletterte er aus dem Wagen, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte durch das vergitterte Fenster in die Wachstube. Zunächst verschlug es ihm die Sprache. Dann sagte er zu sich selbst: »So etwas gibt’s doch gar nicht.« Er trommelte mit der Hand gegen die Scheibe. »Witschoreck!«, rief er. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?«
Wachtmeister Witschoreck saß vorm Schreibtisch und schlief. Neben seinem Stuhl lag die Schäferhündin Diana und schlief. Da half kein Trommeln.

Doktor Heublein rannte zum Tor und schlug mit den Fäusten dagegen. Knarrend bewegte sich der eine eiserne Torflügel. Heublein hörte, wie drinnen der schwere Schlüsselbund klapperte. Um alles in der Welt, sein Gefängnis war nicht abgeschlossen! Er warf sich mit letzter Kraft gegen das massive Tor, bis es so weit aufging, dass er zitternd in den Hof wanken konnte. Dann schob er den Torflügel zu, drehte den Schlüssel im Schloss um und wollte gerade ein bisschen aufatmen. Doch daraus wurde nichts.
Denn er erblickte zwar den Hauptwachtmeister Mühlenschulte, der den Schäferhund Pluto an der Stahlkette hielt, aber sie erblickten ihn nicht. Sie lagen friedlich am Boden und schliefen.

Doktor Heublein ging knieweich über den Hof zum Gefängnisbau hinüber. Ihm sträubten sich die Haare. Auch diese Tür stand offen! Er schlich durch die Korridore. Er stieg von Stockwerk zu Stockwerk. Es war überall dasselbe. Die Gefangenen schliefen. Die Gefängniswärter schliefen. Die Krankenschwester in der Ambulanz schlief. Die Köchin und ihre Lehrmädchen schliefen. Der Heizer und sein Wellensittichpärchen schliefen. Und es schliefen sogar die Fliegen an der Wand.

Doktor Heublein rief in seiner Verzweiflung den Polizeipräsidenten an und berichtete stotternd die unheimliche Neuigkeit. Der Präsident brüllte in den Apparat: »Solche Märchen können Sie Ihrer Frau Großmutter unterm Christbaum erzählen!« Aber er begann nachzudenken. Vielleicht war es gar kein Märchen?
Zehn Minuten später jagte ein Dutzend Streifenwagen durch die Stadt. Die Blaulichter rotierten. Die Martinshörner jaulten. Große Dienstwagen folgten. Im ersten saßen der Polizeipräsident persönlich, Obermedizinalrat Dr. Grieneisen, Kriminalkommissar Steinbeiß und Professor Dickhut, der Direktor des Gerichtschemischen Instituts. Die Passanten blickten verdutzt hinter der wilden Jagd her.
»Warum haben die es denn so eilig?«, fragte eine Frau mit einer schweren Einkaufstasche.
»Vielleicht ist bei jemandem die Milch übergekocht«, meinte ein Schuljunge, der neben ihr stand.

Читать дальше