»Hallo!«, rief Mäxchen.
»Mit so was wie du red ich nich«, sagte Otto. »Ich war wie ’ne Mutter zu dir, und du hast mich reingelegt. Bauchschmerzen und
Baldriantropfen, und ich Dussel sause los - nee, da verliert man jeden Glauben.« Er schüttelte verzweifelt den Kahlkopf. »Was soll bloß aus der Welt werden, wenn schon so kleine Jungs so heimtürkisch sind!«
»Heimtückisch«, verbesserte Jakob Hurtig.
Otto winkte ab. »Is ja egal und Jacke wie Hose. Ich bin ’ne Seele von Mensch, und er hat mich verpfiffen. Das darf nich mal ’n Zwerg.«
»Für einen Kinderdieb sind Sie mir ein bisschen zu vorlaut«, sagte der Jokus ruhig und beugte sich vor.
»Ich mach den Mund überhaupt nich mehr auf«, meinte Otto, »nur noch beim Zahnarzt.«
»Das wäre unklug, mein Lieber«, sagte der Kommissar. Dann holte er aus dem linken Seitenfach eine Flasche Schnaps und ein Wasserglas hervor, stellte beides auf den Schreibtisch und lächelte, als sei er Ottos Lieblingsonkel. »Sie haben den kleinen Mann nicht geraubt. Das hat Ihr Komplize Bernhard besorgt. Immerhin haben Sie sich der Beihilfe schuldig gemacht. Auch das ist ein schweres Verbrechen. Aber >Beihilfe< ist ein dehnbarer Begriff.«
Der Kahle Otto starrte wie hypnotisiert auf die volle Flasche und das leere Glas.
»Es liegt im Ermessen des Gerichts, wie hoch Ihre Strafe ausfallen wird.« Herr Steinbeiß goss das Wasserglas halb voll, schob es zu Otto hinüber und sagte: »Prost!«
Otto packte das Glas, und ehe die anderen bis drei zählen konnten, war es leer. Er grunzte vor Wonne, stellte das Glas auf den Schreibtisch zurück, holte tief Luft und fragte: »Also was wollense wissen?«

»Sie haben dem kleinen Mann, während Sie ihn gefangen hielten, allerlei erzählt. Von einem gewissen Senor Lopez. Er sei der reichste Mann der Welt, lebe zwischen Santiago und Valparaiso in einer geheimnisvollen Burg, sammle alte Gemälde und junge Ballettmädchen und lasse sich von hundert Scharfschützen bewachen. Sie selber und Bernhard hätten vor zwei Jahren in Lissabon eine Zigeunerin entführt, die dem Lopez seitdem täglich die Karten legen müsse. Was wissen Sie noch über diesen Mann und seine Mitarbeiter? Hat er Ihnen den Auftrag, den kleinen Mann zu stehlen, direkt erteilt? Wann und wo? Oder wer war der Mittelsmann? Wie heißt er?«
Otto starrte die Flasche an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schwieg.
»Eine Hand wäscht die andere«, stellte der Kommissar fest.
»Sie helfen mir, und ich helfe Ihnen.« Er goss das Glas wieder halb voll. »Prost!«
Der Kahle Otto nahm sich diesmal Zeit. Er trank in kleinen Schlucken, schüttelte sich, als wolle er den Schnaps im Innern gründlich verteilen, und sagte dann: »Das ist wohl die schärfste Räuberpistole, die ich nach meiner Geburt gehört habe! Davon könnten einem ja glatt die Trommelfelle platzen!«
Die anderen blickten ihn entgeistert an. Mäxchen fuchtelte mit den Armen und rief wütend: »Ich lüge nicht!«
»Natürlich nich«, meinte Otto. »Lügen is für so was gar kein Ausdruck. Das is ’n Weltrekord, Jungchen. So viel Phantasie in so ’nem kleenen Kopp, wie machst du das bloß?«
»Ich lüge nicht«, brüllte Mäxchen wie am Spieß. »Das ist eine bodenlose Gemeinheit!«
Professor Jokus von Pokus zupfte nervös an seinem eleganten Schnurrbart. »Ich bin ein verträglicher Mensch«, sagte er. »Aber jetzt beginnt es mir in den Fingern zu kribbeln.« Er stand langsam auf.
»Bravo«, rief der Schüler Hurtig. »Zerlegen Sie ihn in seine Bestandteile!« Er hatte knallrote Backen.
Da schlug der Kriminalkommissar mit der Faust so energisch auf den Schreibtisch, dass Mäxchen einen unfreiwilligen Luftsprung machte. »Ich bitte mir Ruhe aus«, knurrte Herr Steinbeiß. Dann stellte er die Flasche ins Seitenfach zurück und drückte auf den Klingelknopf. »Für heute die letzte Frage«, sagte er finster zum Kahlen Otto. »Wenn es den Senor Lopez nicht geben sollte -warum haben Sie versoffener Kehlkopf, nein, Kohlkopf, ach was, Kahlkopf, dann den Jungen überhaupt gestohlen?«
Otto machte runde Augen. »Sie wissen nich, was Sie wollen. Erst erzählen Sie mir lang und breit, dass ich’s gar nich gewesen bin, sondern der Bernhard. Und nu soll ich plötzlich wissen, warum ich’s getan hätte. Ich war doch bloß Beihilfe, und das is ’n kolossal dehnbarer Begriff. Fragense doch Bernhard!«
Ein Wachtmeister kam ins Zimmer. »Abführen!«, bellte der Kommissar.
Kaum war Otto draußen, wankte Steinbeiß zu dem Sofa in der Ecke, setzte sich, zog die Stiefel aus und sagte: »Es ist zwar erst Nachmittag, aber ich habe vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Gute Nacht.« Dann kippte er um. Die Sprungfedern quiekten wie zwanzig Ferkel vor der Fütterung. Aber er hörte es nicht mehr.
Am gleichen Nachmittag geschah, was unsere Geschichte betrifft, noch zweierlei. In Berlin traf Mister Drinkwater ein. Und in Orly, auf dem Flugplatz in Paris, wurde das >Unternehmen Domröschem gestartet. Diese merkwürdige Bezeichnung erhielt das Unternehmen allerdings erst, als es zu spät war. Hinterher sind die Leute ja immer klüger.
Hinterher also stellte man fest, dass in Orly 16 Uhr 25 eine Chartermaschine mit achtunddreißig Passagieren nach Berlin abgeflogen war. Nun, solche Touristenflüge sind nichts Ungewöhnliches. Auch dass die Reisegesellschaft nur aus Männern bestand, war nicht weiter auffällig. Vielleicht handelte es sich um einen Kegelklub.
Der Flug nach Berlin verlief glatt. Die Maschine wurde in einem Hangar abgestellt. Sie war für drei Tage gemietet und der
Rückflug war vorausbezahlt worden. Der Reiseleiter, ein Monsieur Boileau, ließ sich vom Piloten das Hotel nennen, wo man ihn telefonisch erreichen könne. Denn vielleicht, sagte Monsieur Boi-leau, flöge er mit seiner Gesellschaft schon früher nach Paris zurück. Damit verabschiedete er sich und suchte seine Leute, die schon in der Halle neben dem Rollband auf ihre Koffer warteten. Was sie in Berlin vorhatten, blieb vorläufig ein Geheimnis. Für Mitglieder eines Kegelklubs oder eines mehrstimmigen Männergesangvereins hättet ihr sie, wie sie ihre schweren Koffer schulterten, sicher nicht gehalten. Aber ihr wart leider nicht am Flugplatz. Na ja, man kann nicht überall sein.
Am gleichen Nachmittag traf, wie ich schon sagte, auch Mister Drinkwater ein. John Foster Drinkwater, einer der großen amerikanischen Filmproduzenten. Er war überhaupt ein großer Mann: 1 Meter 90 in Socken. Das schafft nicht jeder.
Ursprünglich hatte er nur den Europachef der Firma schicken wollen. Ihm verdankte er den ersten Hinweis auf die Sensationen, die sich rund um den kleinen Mann abgespielt hatten. Doch dann hatte sich Mister Drinkwater höchstselbst in Bewegung gesetzt. Hollywood-New York-London-Berlin, die Zeit war ihm wie im Fluge vergangen. Er musste Mäxchens Geschichte verfilmen, koste es, was es wolle. Hoffentlich hatte die Konkurrenz noch nicht gewittert, was für ein Riesengeschäft hier mitten auf der Straße lag. Jetzt oder nie!
Als er am Hilton-Hotel in der Budapester Straße vorfuhr und in seiner ganzen Größe aus dem Taxi kletterte, standen bereits die Hoteldirektoren im Portal und verbeugten sich vor ihm.
»Was suchen Sie?«, fragte er, weil sie sich so tief bückten. Ehe sie über seinen Witz höflich lächeln konnten, war er schon am Lift. Und ehe sie am Lift waren, saß er schon im Hotelzimmer und telefonierte. Damit beginnt ...

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