Wenja schleuderte das Metallstück gegen seine Angreifer und sprang über den Zaun; gleich zwei Milizautos kamen von irgendwoher die Straße entlang angerast, und unter Sirenengeheul und dem Geschrei der Miliz rannten alle, die sich am Markt versammelt hatten, in verschiedene Richtungen davon.
Sascha kam es vor, als würde er allen vorweg laufen. In seiner Kehle blubberte es merkwürdig. Hinter seinem Rücken hörte er Trampeln und war überzeugt, dass es sich um Ljoscha und Negativ handelte und dass auch Wenja nicht weit entfernt sein konnte.
Es war sinnlos sich umzudrehen. Sascha fluchte, drohte gegen irgendetwas zu stoßen. Es war so dunkel, dass er nicht einmal die Gesichter der hinter ihm Laufenden erkennen konnte. Er wäre gegen eine Betonwand gelaufen, hätte er nicht gehört, wie jemand gerade über sie kletterte …
Er tastete vor sich – ja, eine Wand.
Sascha sprang hinauf und kletterte hinterher.
»Der Markt!«, wurde Sascha klar, als er auf der anderen Seite hinuntersprang. »Ich bin auf dem Markt!«
Nach der Schlägerei und dem Laufen hatte sich in seinem Mund eine Unmenge Speichel angesammelt, Sascha musste ausspucken und drehte den Kopf, um etwas, das im Gesicht hängen geblieben war, abzuschütteln. Es klebte am Kinn. Er wischte es mit dem Ärmel ab.
Um ihn herum erhoben sich Hallen, es gab praktisch keine Beleuchtung.
Schwer atmend tappte Sascha sinnlos im Dunkeln herum und glaubte Kisten, leeres Verpackungsmaterial zu erkennen, das übereinander gestapelt und an die Mauer der nächstgelegenen Halle gelehnt war.
Sascha wollte genau dorthin, er suchte einen Unterschlupf, in dem man sich hinter den Kisten verstecken konnte und atmen, atmen – lange und schwere Speichelfäden hingen an ihm herunter.
Völlig entkräftet von den Ereignissen und vom Alkohol, zwängte er sich zwischen den Kisten näher zur Mauer und trat auf etwas Weiches. Auf einen sitzenden Menschen.
»He«, sagte Sascha leise und ging in die Hocke, dann auf alle viere, um nicht zu fallen … spuckte noch einmal lange aus und kniff die Augen zusammen, um den Sitzenden zu erkennen. »Wer ist da? Nimm verdammt noch mal die Hände weg …«
Der vor ihm Sitzende nahm die Hände vom Gesicht. Sascha sah, dass es ein Kaukasier war, ein junger, fast noch ein Kind, aber in Lederjacke, mit spitzen Stiefeletten und in Jeans.
»Was – Scheiße noch mal – tust du hier?«, fragte Sascha heiser und beinahe naiv. Der Bursche schaute verblüfft – entweder erschrocken oder frech.
Sascha atmete nochmals tief ein, senkte den Kopf und ließ die heiße Zunge heraushängen, die ganz süß schmeckte.
»Rück zur Seite …«, sagte Sascha, setzte sich neben den Jungen und fasste ihn an der Schulter. »Scheiß dich nicht an. Wir bleiben jetzt hier sitzen und gehen dann … Wo sind meine Freunde, Scheiße nochmal … Weißt du nicht, wo meine Freunde sind?«
»Nein.«
»N-a-i-n«, äffte Sascha nach. »Wie heißt du?«, fragte er nach einer Pause.
»Sascha.«
»Ich heiße auch Sascha. Nur bist du nicht Sascha, sondern irgendein Sacha. Alchu. Aslachan. Richtig?«
Er bekam keine Antwort.
Sascha hatte die höchst russische Angewohnheit, im Suff sinnlose Gespräche zu führen.
»Woher kommst du?«
»Jerewan.«
»Oh …«, sagte Sascha unbestimmt. »Wieso habt ihr begonnen, uns zu prügeln, ha? Sacha!«
»Ich weiß nicht. Ich bin später gekommen.«
»Verspätet«, ätzte Sascha. »Ach was, sei nicht beleidigt …«, sagte er und schwieg wieder. »… wir machen Revolution, bringen alle Arschlöcher um – dann komme ich zu dir nach Almaty und wir trinken Tee auf der Veranda.«
»Ich bin aus Jerewan.«
»Wir kommen zu dir nach Teheran.« Sascha stellt sich weiter dumm, obwohl er alles verstanden hatte. »Wir werden Tee trinken auf der Veranda. Hast du eine Veranda?«
»Still … Da geht jemand …«
Eine Minute später leuchtete ihnen eine Taschenlampe ins Gesicht.
»Aufstehen«, sagte der Milizionär.
Es waren zwei Mitarbeiter des Patrouillendienstes, und zusätzlich ein Marktwächter, ein alter Mann.
Sie legten Sascha Handschellen an, Sacha auch.
Obwohl die Milizionäre bei Letzterem kurz zögerten.
»Und den?«, fragte der eine.
»Ja, was?«, antwortete der zweite ohne besonderen Nachdruck in der Stimme »Wohin mit ihm? Nehmen wir ihn auch mit.«
Sie führten die Verhafteten zum Patrouillenauto, das direkt zum Haupttor des Marktes gefahren war.
Sie öffneten die hinteren Türen der grünen Minna [111] die Minna – патрульная машина, «козелок»
, setzten sie einander gegenüber in den Käfig hinter dem Rücksitz, dann schlugen sie fünf Mal die Tür zu, die sich nicht schließen lassen wollte.
Wenn Sascha bei Schlaglöchern hochgeschleudert wurde und in den Kurven umkippte, berührte er mit der Stirn die Stoffverkleidung des Fahrzeuges. Mit einer gewissen Nüchternheit dachte er, dass sein freies Leben jetzt beendet war.
Sie bringen ihn jetzt dorthin, und im Laufe der Überprüfung wird sich rasch herausstellen, dass er in Moskau randaliert hatte, und das würde dann das Ende sein.
Es gelang ihm nicht, ernsthaft darüber zu erschrecken.
Man brachte sie aufs Revier. Aus dem verglasten Wachzimmer, in dem ein schnauzbärtiger Milizhauptmann am Telefon sprach, während er mit einem Löffel den Tee umrührte, kam ein schläfriger, sich vor Müdigkeit streckender Milizsergeant heraus, offenbar der Assistent des Diensthabenden …
Sascha betrachtete mürrisch die violetten Wände der Abteilung, die alten, sich an der Oberfläche wellenden Tische [112] die alten, sich an der Oberfläche wellenden Tische – старые, облупленные столы
; wieder dachte er, dass er sich sein ganzes Leben lang daran erinnern würde.
Und außerdem dachte er, dass es noch – wie letztes Mal – die Möglichkeit gab, auszureißen, durch die offene Tür hinauszulaufen, in irgendeinen Hof zu verschwinden, irgendwohin … aber irgendwie hatte er weder Kraft noch Lust dazu.
Man nahm Sascha die Handschellen ab, und er rieb sich, wie jeder Mensch, dem man die Handschellen abnimmt, die Handgelenke.
»Auch vom Bahnhof ?«, fragte der Sergeant die vom Patrouillendienst so leise, als sei er sehr müde.
»Vom Bahnhof …«, antworteten sie.
»Haben wir Waffen, Drogen, spitze und scharfe Gegenstände?«, fragte der Sergeant Sascha und den kaukasischen Jungen.
Der Kaukasier schüttelte den Kopf.
»Hab alles bei der Verhaftung weggeworfen«, antwortete Sascha und verstand am melancholischen Gesichtsausdruck des Sergeanten, dass auch der diesen Scherz schon hunderte Male gehört hatte.
Sie mussten den Inhalt ihrer Taschen auf den Tisch legen. Sascha hatte nichts bei sich, der Kaukasier ein Handy und einen fetten Geldbeutel.
Sie klopften Sascha an den Seiten, Beinen und Arschbacken ab, überprüften die Ärmel, baten, die Hosenbeine anzuheben, um zu sehen, ob er nicht in den Schuhen verbotene Gegenstände bei sich trug.
Ein Riegel wurde scheppernd zurückgezogen, man schob Sascha in einen kleinen Raum, der auf drei Seiten von einer Steinmauer und an der vierten von einem Gitter begrenzt war.
Sascha sah Wenja, Negativ und Rogow sofort.
Wenja und Negativ saßen in der Hocke – es gab weder Stühle noch Bänke im Raum. Rogow stand, er lehnte sich an die grün gestrichenen Stäbe. Durch die Stäbe hindurch waren ein Tisch und ein Safe zu sehen, in das der Sergeant den Geldbeutel und das Handy des Kaukasiers legte.
»Oho, Sanja haben sie auch gefesselt!«, sagte Wenja und lächelte. Auch Rogow lächelte.
Negativ hob den Kopf und schüttelte ihn – Sascha verstand nicht, was er damit sagen wollte.
»Was machst du denn hier, Täubchen?«, fragte Wenja jemanden, der hinter Sascha stand.
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