Die zweite Regel bestand darin, dass sie sich von niemandem etwas sagen ließe. Sie hatte schon zu viel mitgemacht. Sie hatte Dinge gesehen, über die sie niemals sprechen könnte. Dinge, die sie Nachts immer noch nicht schlafen ließen. Dinge, die sich ein Typ wie Tommy niemals vorstellen könnte. Sie war nicht wie andere Teenager, voller Angst. Sie hatte ihre eigene Vergangenheit überwunden.
Oben angelangt öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer, das sie und Camilla teilten. Es war wie ein Zimmer im Studentenwohnheim eingerichtet: zwei Doppelbetten, die an entgegengesetzten Wänden standen, mit einem Gang und einem geteilten Nachttisch dazwischen. Sie hatten eine kleine Kommode und einen Schrank, den sie ebenfalls teilten. Ihre Mitbewohnerin lag noch im Bett. Sie lag wach auf dem Rücken und scrollte durch die sozialen Netzwerke auf ihrem Handy.
“Hey”, gähnte sie, als Sara eintrat. Camilla war achtzehn und zum Glück sehr angenehm. Sie war die erste Freundin, die Sara in Florida gewann. Es war ihre Internetanzeige für eine Mitbewohnerin, die Sara überhaupt hierher gebracht hatte. Sie verstanden sich gut. Camilla brachte ihr sogar bei, zu fahren. Sie brachte ihr bei, wie man Wimperntusche auflegte und welche Kleidung ihrem schmalen Körper gut stand. Sara hatte eine Menge neues Vokabular und Angewohnheiten von ihr gelernt. Fast wie eine große Schwester.
Fast wie eine große Schwester, die dich nicht mit einem Mann alleine lässt, den du nicht aushältst.
“Hey du. Steh auf, es ist schon fast zehn.” Sara nahm ihre Handtasche vom Nachttisch und schaute nach, ob sie alles hatte, was sie brauchte.
“Es wurde gestern Nacht bei mir spät.” Camilla arbeitete als Bedienung und Barkeeper bei einem Fischrestaurant. “Aber schau mal, ich hab das Bündel hier bekommen.” Sie zeigte ihr ein dickes Bündel Bargeld, das Trinkgeld der letzten Nacht.
“Toll”, murmelte Sarah, “ich muss zur Arbeit.”
“Cool. Ich habe heute Abend frei. Soll ich dir wieder das Haar machen? Sieht ein bisschen zerzaust aus.”
“Ja, ich weiß, sieht Scheiße aus”, erwiderte Sara verärgert.
“Aua, feindlich.” Camilla zog die Stirn in Falten. “Wer hat dir denn die Laune versauert?”
“Tut mir leid. War nur Tommy, der sich wie ein Esel benimmt.”
“Vergiss den Typen. Das ist doch ein Angeber.”
“Ich weiß”, seufzte Sara und rieb sich über ihr Gesicht. “OK. Ich gehe zur Maloche.”
“Wart mal. Du bist ganz schön nervös. Willst du ein Pillchen?”
Sara schüttelte ihren Kopf. “Nein, ist schon in Ordnung.” Sie ging zwei Schritte auf die Tür zu. “Scheiß drauf, her damit.”
Camilla grinste und setzte sich im Bett auf. Sie griff nach ihrer eigenen Tasche und zog zwei Dinge heraus – eine orangefarbene Rezeptflasche ohne Etikette und einen kleinen Plastikzylinder mit einer roten Kappe. Sie schüttelte eine längliche, blaue Xanax aus der Flasche, ließ sie in die Tablettenmühle fallen, drehte die rote Kappe fest zu und zerdrückte dabei die Tablette zu Pulver. “Hand her.”
Sara streckte ihre rechte Hand aus, mit der Innenfläche nach unten, und Camilla schüttelte das Puder auf die fleischige Brücke zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. Sara hielt ihre Hand an ihr Gesicht, verschloss ein Nasenloch und schniefte.
“Gutes Mädchen.” Camilla schlug ihr sanft auf den Hintern. “Jetzt aber raus hier, bevor du noch zu spät kommst. Bis heute Abend.”
Sara machte das Friedenszeichen, als sie die Tür hinter sich schloss. Sie konnte das bittere Puder in ihrer Kehle schmecken. Es dauerte nicht lang, bis es wirkte, doch sie wusste, dass eine Tablette sie kaum durch den halben Tag brächte.
Draußen war es selbst für Oktober noch sehr heiß, so wie die Spätsommer, die sie manchmal in Virginia hatten. Doch sie gewöhnte sich an das Wetter. Sie mochte den Sonnenschein, der fast das ganze Jahr währte, es gefiel ihr, so nah am Strand zu sein. Das Leben war nicht immer toll, doch es war viel besser, als es vor zwei Sommern war.
Sara war kaum aus der Tür, als ihr Handy in ihrer Tasche klingelte. Sie wusste schon, wer es war, eine der wenigen Personen, die sie überhaupt anrief.
“Hi!” antwortete sie, während sie lief.
“Hallo.” Mayas Stimme klang leise, angestrengt. Sara bemerkte gleich, dass es ihr wegen irgendetwas nicht gut ging. “Hast du eine Minute Zeit?”
“Äh, ein paar. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit.” Sara blickte um sich. Sie lebte in keinem schlechten Viertel, doch es wurde ein wenig rauer, als sie sich dem Secondhandladen annäherte. Sie hatte niemals selbst ein Problem gehabt, doch sie achtete immer aufmerksam auf ihr Umfeld und hielt den Kopf beim Gehen erhoben. Ein Mädchen, das durch ihr Telefon abgelenkt war, konnte ein mögliches Ziel sein. “Was gibt’s?”
“Ich, äh…” Maya zögerte. Es war sehr ungewöhnlich, dass sie verdrossen war und sich zögerlich verhielt. “Ich habe gestern Abend Papa gesehen.”
Sara hielt an, aber sagte nichts. Ihr Magen zog sich instinktiv zusammen, als ob sie sich auf einen Schlag vorbereitete.
“Es… lief nicht gut.” Maya seufzte. “Ich habe ihn zum Schluss angeschrien und bin rausgerannt —”
“Warum erzählst du mir das?” wollte Sara wissen.
“Was?”
“Du weißt, dass ich ihn nicht sehen will. Dass ich nichts von ihm hören will. Ich will nicht mal an ihn denken. Also warum erzählst du mir das?”
“Ich dachte, du wolltest es vielleicht wissen.”
“Nein”, sagte Sara nachdrücklich. “Du hattest eine schlechte Erfahrung und du willst mit jemandem darüber sprechen, von dem du annimmst, dass er dich versteht. Es interessiert mich nicht. Ich bin mit dem durch. OK?”
“Ja”, seufzte Maya. “Ich glaube, ich auch.”
Sara zögerte einen Moment. Sie hatte ihre Schwester nie so geschlagen gehört. Doch sie beharrte auf ihrer Position. “Gut. Mach mit deinem Leben weiter. Wie läuft es in der Akademie?”
“Da läuft’s super”, antwortete Maya, “ich bin die Klassenbeste.”
“Natürlich bist du das. Du bist brillant.” Sara lächelte, als sie weiterging. Doch gleichzeitig bemerkte sie Bewegung auf dem Bürgersteig in der Nähe ihrer Füße. Ein Schatten, der sich lang in der Morgensonne hinzog, hielt mit ihr Schritt. Jemand lief nicht weit hinter ihr.
Du bist paranoid. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie einen Fußgänger für einen Verfolger hielt. Es war eine bedauerliche Nachfolge ihrer Erlebnisse. Trotzdem ging sie langsamer, als sie sich der nächsten Kreuzung annäherte, um die Straße zu überqueren.
“Aber ernsthaft”, sagte Maya durch das Telefon. “Geht es dir gut?”
“Oh, ja.” Sara hielt inne und wartete auf die Ampel. Der Schatten tat das gleiche. “Mir geht’s gut.” Sie hätte sich umdrehen können, um ihn anzusehen, ihn wissen lassen, dass sie es bemerkt hatte, doch sie hielt ihre Augen nach vorn gerichtet und wartete, bis die Ampel auf grün schaltete, um herauszufinden, ob er folgen würde.
“Gut. Das freut mich. Ich versuche, dir in den nächsten Wochen was zu schicken.”
“Das musst du nicht tun”, sagte ihr Sara. Dann schaltete die Ampel um. Sie ging schnell über die Straße.
“Ich weiß, dass ich das nicht muss. Ich will es. Also, ich lasse dich jetzt zur Arbeit gehen.”
Ich habe morgen frei.” Sara erreichte die andere Straßenseite und ging weiter. Der Schatten hielt mit ihr mit. “Sprechen wir dann?”
“Unbedingt. Hab dich lieb.”
“Ich dich auch.” Sara legte auf und steckte das Handy wieder in ihre Tasche. Dann bog sie ohne Vorwarnung abrupt nach links ab und joggte ein paar Schritte, nur um aus seinem Blickfeld zu gelangen. Sie drehte sich um, verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust und legte einen ernsthaften Gesichtsausdruck auf, als ihr Verfolger hinter ihr um die Ecke kam.
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