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Maya stippte eine Kruste Sauerteigbrot in den polnischen Eintopf und kaute langsam darauf herum. Er war köstlich, viel besser als das Essen in der Akademie, doch sie hatte kaum Appetit. Ihr Vater saß ihr an dem kleinen Esstisch gegenüber, Maria links und Greg rechts von ihr.
Und er starrte sie wieder an.
Sie wünschte, sie wäre nicht gekommen. Sie schuldete ihm nichts. Und sie wusste, dass sie sich nicht dazu zwingen konnte, aufzublicken, ihm in die Augen zu schauen und den unverdeckten Schmerz ihres Bruches zu sehen. Stattdessen starrte sie auf ein geflecktes Stückchen Krakauer auf ihrem Teller.
Ihn hier, in diesem neuen Haus, in dem er mit Maria lebte, mit dunklen Ringen unter seinen Augen und mehr Gewicht um seine Taille zu sehen, ließ sie ihren eigenen Vater wie einen Fremden erscheinen. Er hatte nicht mehr das jugendliche, verspielte Licht in seinen Augen, das immer da war, als sie aufwuchsen. Sie hatte ihn seit mehr als einem Jahr nicht mehr lachen hören. Sie vermisste ihre sarkastischen, lustigen Gespräche und manchmal erhitzten Debatten.
“Stimmt’s Maya?”
“Wie?” Sie blickte auf, als sie ihren Namen hörte und sah Greg, der sie erwartend anschaute. “Oh. Ja. Das stimmt.” Du liebe Güte, redet der immer noch?
Greg war nicht wirklich ihr Freund. Zumindest sah sie das nicht so. Sie gingen damit lässig um, es war nichts offizielles. Er wusste, dass sie ihm gefiel – sie hatten sich ein paar Mal geküsst, doch sie ließ ihn nicht näher an sich heran —aber dennoch konnte sie es eigentlich nur als eine Frage des Status für ihn ansehen. Er kam aus einer guten Familie, seiner Mutter war in der Politik tätig und sein Vater ein hochrangiges Mitglied des nationalen Sicherheitsrates. Sie war Klassenbeste und (je nach dem, wen man fragte) vermutlich besser bei den meisten Dingen, insbesondere was akademische Leistungen anging. Einige der anderen Kadetten in der zweiten und dritten Klasse machten Witze darüber, dass sie das “Königspärchen des Abschlussballes von West Point” waren.
Er sah gut aus. Er war athletisch. Er war eigentlich ein netter Typ. Aber er war auch ein Angeber, egozentrisch und sich seinen Fehlern komplett unbewusst.
“Wenn ihr mich fragt”, sagte Greg, “hätte Pierson in den Knast gehört. Meine Mutter sagt – meine Mutter war die Bürgermeisterin von Baltimore für zwei Jahre, habe ich das schon erwähnt? Na, auf alle Fälle sagt sie, dass seine Fahrlässigkeit ausgereicht hätte, um ihn des Amtes zu entheben oder ihn zumindest nach seiner Amtszeit zu verklagen…”
Hör auf, mich anzustarren. Sie wollte es herausschreien, doch hielt die Zunge im Zaum. Sie konnte fühlen, wie verzweifelt ihr Vater mit ihr sprechen wollte. Das war ein Teil des Grundes, warum sie Greg mitgebracht hatte, damit sie während dieses Besuches in keine Wespennester stechen konnten. Sie wusste, dass er nach Sara fragen wollte. Sie wusste, dass er um Entschuldigung bitten wollte, alles wieder gutmachen wollte, die ganze Sache hinter sich lassen wollte.
Die Wahrheit war, dass sie ihn nicht hasste. Nicht mehr. Es brauchte Energie, um jemanden zu hassen und sie steckte all ihre Energie in die Akademie. Für sie war es kein Thema mehr. Dieser Besuch war nicht versöhnend, er war bürokratisch. Eine Gepflogenheit. Etikette. Die Werte, die sie von der Akademie eingeflößt bekamen, trafen zwar nicht ganz auf Mayas einzigartige Situation zu, doch für sie bedeutete das, dass sie mindestens hin und wieder den Mann sehen sollte, der sie großgezogen hatte, der nur noch ein Schatten seiner selbst war. Selbst wenn es zu nichts weiter nützte, als sich selbst zu beweisen, dass sie es immer noch aushielt, im selben Zimmer wie er zu sein.
Doch jetzt wünschte sie sich, dass sie nicht gekommen wäre.
“Also”, sagte Maria plötzlich. Greg hatte lange genug aufgehört, zu reden, um etwas Eintopf zu löffeln und Maria nahm die Gelegenheit beim Schopfe. “Maya. Hast du in letzter Zeit mit deiner Schwester gesprochen?”
Die Frage überraschte sie. Sie hatte sie von ihrem Vater erwartet, aber nicht von Maria. Dennoch war es eine gute Gelegenheit, die Fähigkeiten auszuprobieren, die sie entwickelt hatte. Sie bekämpfte den Instinkt, jeglichen verräterischen Gesichtsausdruck zu unterdrücken und lächelte stattdessen leicht.
“Das habe ich”, antwortete Maya. “Gerade erst gestern sogar. Ihr geht es gut.” Nur die Hälfte davon war eine Lüge.
“Du hast eine Schwester?” fragte Greg.
Maya nickte. “Zwei Jahre jünger. Sie ist in Florida bei einem Ausbildungsprogramm. Sehr beschäftigt.” Eine weitere Lüge, doch sie ging ihr leicht von den Lippen. Sie wurde immer besser dabei und erfand oft kleine Lügen, nur um zu üben – und weil es ehrlich gesagt ein bisschen aufregend war.
“Und äh…” Ihr Vater räusperte sich. “Kommt sie klar? Hat sie alles, was sie braucht?”
“Ja ja”, erwiderte Maya kurz, ohne ihn anzublicken. “Der geht’s toll.”
Greg lächelte gekünstelt, als er sich an ihren Vater wandte. “Sie fragen, als ob sie nicht mit ihr sprächen, Mr. Lawson.”
“Wie Maya schon sagte”, gab ihr Vater leise zurück, “Sara ist sehr beschäftigt.
Maya wusste, dass ihr eigener plötzlicher Umzug ihn verletzt hatte. Doch wenn dies der Fall war, dann war Saras Abschied der Todesstoß.
In diesem ersten Sommer, nur ein paar Monate nachdem ihr Vater Präsident Piersons Leben gerettet hatte, nachdem er ihnen die Wahrheit über ihre Mutter gesagt hatte und die Anspannung zu Hause sehr stark war, hatte Maya ihre Pläne ihrer Schwester anvertraut. Sie sagte Sara, dass sie das letzte Jahr High School übersprungen und sich für West Point beworben hatte.
So lange sie lebte, vergäße sie nicht den panischen Gesichtsausdruck ihrer kleinen Schwester. Bitte. Bitte nicht, bettelte Sara. Lass mich nicht allein hier mit ihm. Ich kann das nicht.
So sehr es ihr auch das Herz brach, Maya hatte ihre Pläne geschmiedet und hatte vor, sie durchzuziehen. Also machte Sara ihre eigenen Pläne. Sie ging ins Internet und fand einen Anwalt, der ihren Fall ehrenamtlich übernähme. Dann stellte sie einen Antrag auf Emanzipierung. Sie wusste, dass dies nur wenig Chance hatte. Es gab keine Beweise für Vernachlässigung, Misshandlung oder ähnliches.
Beide Schwestern waren jedoch schockiert, dass der Vater den Antrag nicht bekämpfte. Weniger als zwei Wochen, nachdem Maya zur Militärakademie in New York gezogen war, erschien ihr Vater zum Gerichtstermin und sagte seiner damals fünfzehnjährigen Tochter in Anwesenheit eines Richters, dass wenn sie so sehr erpicht darauf war, ihre Freiheit von ihm zu erlangen, dass sie ihn deshalb vor Gericht zog, sie ihre Freiheit haben könnte.
In derselben Nacht gab es noch ein weiteres Ereignis, das Maya nicht so schnell vergessen konnte. Ihr Vater rief sie an. Sie ignorierte ihn. Sie hasste ihn damals noch. Er hinterließ eine Nachricht auf ihrer Mailbox, die sie für zwei weitere Tage nicht abhörte. Als sie es schließlich tat, bereute sie ihre Entscheidung. Seine Stimme schwankte, brach fast. Er sagte ihr, dass Sara gegangen war. Er gab zu, dass er all das und noch mehr verdient hatte. Er entschuldigte sich drei Mal und sagte ihr dann, dass er sie liebte.
Es würde weitere sechs Monate dauern, bis sie wieder sprachen.
Doch Maya blieb in Kontakt mit ihrer Schwester. Nach der Emanzipation. Sara packte ein, was sie tragen konnte und stieg in einen Bus. Sie blieb schließlich in Florida und nahm den ersten Job an, den sie fand, als Kassiererin in einem Secondhandladen. Sie arbeitete dort immer noch. Sie lebte in einer Wohngemeinschaft, einem gemieteten Haus mit fünf weiteren Leuten. Sie teilte sich ein Schlafzimmer mit einem Mädchen, das ein paar Jahre älter als sie war und das Bad mit allen.
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