Karina Pavlo saß in der hintersten Ecke der Theke, wurde zwar von Bierzapfhähnen verdeckt, doch hatte eine klare Sicht auf den vorderen Eingang. Sie hatte einen Ort gewählt, an dem niemand sie jemals vermutete, eine heruntergekommene Bar im südöstlichen Teil von Washington DC, nicht weit entfernt von Bellevue. Es war nicht gerade die feinste Nachbarschaft und die Abenddämmerung setzte allmählich ein, doch sie war nicht über Taschendiebe oder Straßenräuber besorgt. Sie hatte ein größeres Problem.
Außerdem hatte sie gerade selbst einen Kleindiebstahl begangen.
Nachdem sie den Geheimdienstagenten abgehängt und sich eine Weile in einem Bücherladen versteckt hatte, war Karina wieder hinaus auf die Straße gegangen, doch für nur weniger als einen Block, bevor sie ein Kaufhaus betrat. Abgesehen davon, dass sie barfuß ging, war sie immer noch schick bekleidet und mit hocherhobenem Kopfe und einem selbstbewussten Gang, den sie einlegte, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sah sie wie jegliche Geschäftsfrau der gehobenen Mittelklasse aus.
Sie ging direkt auf die Frauenabteilung zu und nahm ein paar Stück lässige Kleidung von der Stange, Stücke, die keine Aufmerksamkeit erregten. Sie hinterließ ihren Rock, ihre Bluse und ihren Blazer in der Umkleidekabine, zog ein Paar Turnschuhe an und nahm eine andere Tür wieder hinaus auf die Straße, ohne dass sie jemand zwei Mal angeblickt hätte. Zwei Häuserblocks weiter machte sie bei einem anderen Geschäft Halt, gab vor, sich für ein paar Minuten umzusehen und verließ es wieder mit einer gestohlenen Sonnenbrille und einem Seidenschal, den sie über ihr dunkles Haar gebunden hatte.
Zurück auf der Straße erblickte sie einen pummeligen Mann in einem gestreiften Polohemd mit einer Kamera, die um seinen Hals hing. Er sah wie der absolut typische Tourist aus. Sie rempelte ihn rau an, als sie aneinander vorbeigingen, schnappte nach Luft und entschuldigte sich sofort. Sein Gesicht wurde rot und er öffnete seinen Mund, um sie anzuschreien, bis er sah, dass sie schlank, hübsch und braunhaarig war. Er murmelte eine Entschuldigung und eilte davon, bemerkte nicht, dass sein Portemonnaie verschwunden war. Karina war schon immer geschickt mit ihren Händen gewesen. Sie hieß Stehlen nicht gut, doch dies war eine Notlage.
In dem Portemonnaie waren fast hundert Dollar Bargeld. Sie nahm das Geld und warf den Rest – den Ausweis, die Kreditkarten und die Fotos von Kindern – in einen großen blauen Briefkasten an der nächsten Ecke.
Schließlich nahm sie ein Taxi auf die andere Seite der Stadt, in Richtung Osten, wo sie in die Spelunke ging, deren Fenster verdunkelt waren und die nach billigem Bier roch. Sie setzte sich an die Theke und bestellte ein Erfrischungsgetränk.
Der Fernseher hing über den Zapfhähnen. Er war angeschaltet und zeigte einen Nachrichtenkanal, der über die Sportergebnisse des vorherigen Abends berichtete. Sie nippte an ihrem Getränk, beruhigte ihre Nerven und fragte sich, was sie als Nächstes täte. Sie konnte nicht zurück zum Hotel, das wäre eine dämlich Idee. Außerdem konnten sie dort nichts finden, außer Kleidung und Toilettenartikeln. Sie kannte eine Telefonnummer auswendig, doch sie wollte nicht hinaus, um ein öffentliches Telefon zu finden. Es gab immer weniger von ihnen, selbst in der Stadt. Der Geheimdienst hatte ihr Handy und sie könnten die öffentlichen Telefone überwachen.
Sie dachte darüber nach, den Barkeeper darum zu bitten, sein Telefon zu benutzen, doch ihr Kontakt war eine internationale Nummer und das hätte ungewollte Aufmerksamkeit auf sie ziehen können.
Das nächste Mal, als Karina auf den Fernseher hochblickte, hatte der Beitrag sich geändert. Ein Nachrichtensprecher, den sie nicht erkannte, sprach und auch wenn die Lautstärke zu niedrig war, um ihn zu verstehen, konnte sie ganz klar die Worte auf der unteren Bildleiste erkennen: HARRIS UND KOZLOVSKY HALTEN PRIVATES TREFFEN.
“Korva”, seufzte sie. Scheiße. Dann auf englisch: “Können Sie das bitte lauter machen?”
Der Barkeeper, ein lateinamerikanischer Mann mit einem Schnauzbart, blickte sie für einen Moment finster an, bevor er sich umdrehte, um ihr zu zeigen, wie offensichtlich er sie ignorierte.
“Zalupa” murmelte sie, ein unfreundliches Schimpfwort auf ukrainisch. Dann lehnte sie sich über die Bar, fand die Fernbedienung und stellte den Fernseher selbst lauter ein.
“…eine anonyme Quelle im Weißen Haus hat bestätigt, dass heute ein privates Treffen zwischen Präsident Harris und dem russischen Präsidenten Aleksandr Kozlovsky stattgefunden hat”, erklärte der Nachrichtensprecher. “Über Kozlovskys Besuch in den Vereinigten Staaten wurde während der letzten zwei Tage viel berichtet, doch ein Treffen hinter verschlossenen Türen in einem Konferenzsaal im Keller des Weißen Hauses bringt viele Leute dazu, sich nervös an die Ereignisse vor fast eineinhalb Jahren zu erinnern.
“Als Antwort auf die Enthüllung veröffentlichte der Pressesekretär diese Erklärung, und hier zitiere ich:,Beide Präsidenten waren unter einem wahrhaftigen Mikroskop während der letzten zwei Tage, und das lag größtenteils an den Indiskretionen ihrer Vorgänger. Präsident Harris und sein Gast wollten einfach nur eine kurze Pause vom Scheinwerferlicht. Das Treffen, von dem man spricht, dauerte weniger als zehn Minuten, und es ging darum, dass die beiden Anführer sich besser kennenlernen, ohne dabei von den Medien umringt zu sein. Ich kann jeder Person hier und an den Bildschirmen zu Hause versichern, dass es keine geheime Tagesordnung gab. Dies war einfach nur eine Unterhaltung hinter verschlossenen Türen, nichts weiter.’ Als man ihn weiter über die Einzelheiten des Treffens fragte, scherzte der Pressesekretär:,Ich bin über die Einzelheiten leider nicht informiert, doch ich glaube, in dem Treffen ging es hauptsächlich um ihre geteilte Liebe zu Scotch und Dackeln.’
“Auch wenn der wahre Grund des Treffens in Verschwiegenheit verhüllt bleibt, so haben wir durch unsere anonyme Quelle bestätigt, dass nur eine weitere Person im Raum mit den beiden Anführern anwesend war – eine Dolmetscherin. Ihre Identität wurde zwar nicht bekanntgegeben, doch wir haben bestätigt, dass es sich um eine russische Frau handelt. Jetzt will die Welt wissen: haben die beiden Präsidenten wirklich Getränke und Hunde besprochen? Oder hat diese unidentifizierte Dolmetscherin die Antwort, die viele Amerikaner —”
Der Fernseher ging plötzlich aus, der Bildschirm wurde schwarz. Karina blickte scharf hinunter, um festzustellen, dass der lateinamerikanische Barkeeper die Fernbedienung geschnappt und ihn ausgestellt hatte.
Fast wollte sie ihn schon auf gut Englisch Arschloch nennen, doch sie hielt sich zurück. Es war sinnlos, jetzt Streit zu suchen, sie sollte unerkannt bleiben. Stattdessen dachte sie über den Bericht nach. Das Weiße Haus hatte ihre Identität nicht bekannt gegeben, zumindest noch nicht. Sie wollten sie finden und sie stillstellen, bevor sie jemandem sagen könnte, was sie hörte. Was die beiden Präsidenten planten. Was Kozlovsky von dem amerikanischen Staatsoberhaupt verlangte.
Doch Karina hatte ein Ass im Ärmel – zwei sogar. Sie fuhr erneut über die Perlenohrringe. Zwei Jahre zuvor hatte sie für einen deutschen Diplomaten gedolmetscht, der ihr vorwarf, seine Worte falsch interpretiert zu haben. Das hatte sie zwar nicht, doch sie wäre fast in echte Probleme deshalb geraten. Deshalb hatte sie mit der Hilfe ihrer Schwester und deren Kontakten in FIS die Ohrringe herstellen lassen. Jeder von ihnen enthielt ein winziges unidirektionales Mikrophon, das den Sprecher auf jeder Seite von ihr aufnahm. Zusammen nahmen die beiden Ohrringe jedes Gespräch auf, das Karina dolmetschte. Das war natürlich komplett illegal, doch auch sehr nützlich. Seit sie damit begonnen hatte, die Ohrringe zu benutzen, hatte sie niemals Grund dazu gehabt, die Aufnahmen zu verwenden und sie anschließend gelöscht.
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