1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Maya rief ihre Schwester mindestens einmal pro Woche an, noch öfter, wenn ihr Stundenplan es zuließ. Sara sagte immer, dass es ihr gut ginge, doch Maya war sich nicht so sicher, dass sie das glaubte. Sie hatte die High School verlassen und versprochen, dass sie zurückginge, doch das war nicht der Fall. Dieser Tage versuchte Maya nicht einmal mehr, sie zu einer Rückkehr zu überreden. Stattdessen drängte sie Sara dazu, wenigstens ein generelles Bildungszertifikat zu erlangen. Ein weiteres der Dinge, die Sara versprach, zu tun. Irgendwann.
Maya lebte das ganze Jahr über in der Akademie und bekam jedes Semester ein Stipendium für Uniformen, Bücher, Essen und so weiter. Normalerweise blieb ihr nicht viel, doch sie schickte ihrer Schwester ein wenig Geld, wenn sie es konnte. Sara wusste das immer zu schätzen.
Keine der beiden brauchte noch etwas von ihm. Sie wollten nichts mehr von ihm.
Sie hatten wirklich einen Tag zuvor gesprochen, der Teil war keine Lüge. Sara war jetzt sechzehn und eine der Mädchen in ihrer Wohngemeinschaft brachte ihr das Autofahren bei. Es tat Maya weh, dass sie bei solch wichtigen Dingen in Saras Leben nicht dabei war, doch sie hatte ihre eigenen Ziele und war entschlossen, sie zu erreichen.
Einfach gesagt, die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter und die Lügen ihres Vaters hatten nicht einen Keil zwischen ihn und sie getrieben, sondern auch zwischen die zwei Mädchen. Sie waren auf unterschiedlichen Wegen, und wenn sie auch in Kontakt blieben und einander so weit wie möglich hälfen, so war doch keine der beiden dazu bereit, ihr eigenes Leben zu stark für die andere zu unterbrechen.
“Möchte jemand noch mehr?” bot Maria an. “Es ist noch viel übrig.”
Mayas Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das Abendessen. Sie war in ihren eigenen Gedanken verloren und als sie um sich blickte, bemerkte sie, dass alle anderen schon zu Ende gegessen hatten. Sie legte dennoch den Löffel nieder. Sie wollte einfach nur, dass dieser Besuch vorbei wäre, ihnen danken und hier endlich verschwinden. “Nein danke. Es war sehr lecker.”
“Das stimmt”, sagte Greg enthusiastisch. “Einfach köstlich.” Und dann öffnete der blonde Idiot schon wieder seinen Mund. “Danke Ihnen, Frau Lawson.”
Blitzartig explodierte Zorn in ihr. Die Worte sprangen aus Mayas Mund, bevor sie überhaupt über sie nachdenken konnte. “Sie ist nicht Frau Lawson.”
Maria blickte erstaunt. Ihr Vater starrte weiter, doch jetzt waren seine Augen vor Überraschung geweitet und sein Mund stand ihm ein wenig offen.
Greg räusperte sich nervös. “Tut mir leid”, murmelte er, “ich nahm nur an…”
Weiterer Zorn brodelte in ihr auf. “Ich habe dir das auf dem Weg hierher erklärt. Du müsstest nichts annehmen, wenn du einfach mal für nur fünf Minuten aufhören würdest, über dich selbst zu reden!”
“Hey”, sträubte sich Greg, “So kannst du nicht mit mir reden —”
“Warum nicht?” forderte sie ihn heraus. “Kommt sonst deine Mami? Ja Greg. Ich weiß, sie war die Bürgermeisterin von Baltimore für zwei Jahre. Das sagst du ständig. Niemand interessiert sich auch nur die Bohne dafür!”
Er schluckte und sein Gesicht wurde rot, doch er antwortete nicht.
“Maya”, sagte Maria sanft, doch streng, “ich weiß, dass du wütend bist, aber es war nur ein Unfall. Kein Grund, unhöflich zu werden. Wir sind hier alle Erwachsene —”
“Oh.” Maya schnaubte verächtlich. “Ich finde, es gibt jeden Grund, um unhöflich zu sein. Soll ich sie für dich aufzählen?” Sie war klug genug, um zu wissen, was da vor sich ging, doch wütend genug, damit es ihr egal war. Die Wahrheit war offensichtlich. Sie war immer noch sehr verärgert mit ihrem Vater, obwohl sie sich sagte, dass dem nicht so sei. Doch sie hatte all die Feindlichkeit und Wut in ihre Schule und ihre Ziele kanalisiert. Hier und jetzt, wo nichts davon da war und sie dem Mann gegenübersaß, der ihr das angetan hatte, kam wieder alles zurück an die Oberfläche. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an und ihr Herzschlag verdoppelte sich.
Plötzlich merkte sie stärker als je zuvor, dass sie an keine glückliche Kindheitserinnerung denken konnte, ohne dabei zu erkennen, dass das Leben ihres Vaters, und damit auch große Teile ihres Lebens, eine riesige Lüge war, eingewickelt in tausende kleinere Lügen. Das hellste Licht ihres jungen Lebens, ihre Mutter, wurde deswegen brutal und kalt ausgelöscht, durch die Hand eines Mannes, dem Maya dummerweise vertraut hatte.
Und ihr eigener Vater wusste nicht nur davon. Er ließ den Mann, John Watson, frei.
“Maya”, begann ihr Vater, “bitte, lass —”
“Du hast hier nichts zu sagen!” blaffte sie ihn an. “Sie ist wegen dir tot!” Sie überraschte sich selbst mit der Intensität und war dann erneut überrascht, dass ihr Vater nicht in Wut ausbrach. Stattdessen wurde er still und starrte auf den Tisch wie ein getretenes Hündchen.
“Schaut mal, ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht”, sagte Greg leise, “aber ich glaube, ich mache mich besser auf den Weg.”
Er wollte gerade aufstehen, als Maya einen drohenden Finger in sein Gesicht hielt. “Setz dich! Du gehst nirgendwo hin.”
Greg setzte sich sofort wieder auf seinen Stuhl, als sei sie eine Militärausbilderin, die einen Grenadier herumbefahl. Maria beobachtete sie distanziert, eine Augenbraue ein wenig hochgezogen, als wartete sie darauf, herauszufinden, wie dies enden würde. Die Schultern ihres Vaters fielen vornüber und sein Kinn berührte fast sein Schlüsselbein.
“Verdammt”, murmelte Maya, als sie sich mit den Händen über ihr kurzes Haar fuhr. Sie dachte, dass sie damit schon durch wäre, dass sie dieses emotionale Aufbrausen, das wie fehlgeleitete Welle über ihr zusammenbrach, schon überwunden hatte, dass sie es nicht mehr versuchte, den lächelnden, humorvollen Professor, den sie Papa nannte, mit dem tödlichen Geheimagenten zu vereinbaren, der für das Trauma verantwortlich war, das sie für den Rest ihres Lebens hätte. Sie dachte, dass die Weinkrämpfe tief in der Nacht vorbei waren, wenn sie sich umzog und die dünnen weißen Narben der Nachricht sah, die sie in ihr eigenes Bein geritzt hatte, damals als sie dachte, dass sie stürbe und ihr letztes Bisschen Kraft dazu verwendete, um ihm einen Hinweis auf den Aufenthaltsort ihrer Schwester zu geben.
Wage es nicht zu heulen.
“Das hier war ein Fehler.” Sie stand auf und ging auf die Tür zu. “Ich will dich nie wieder sehen.”
Sie war zu wütend, um zu weinen, bemerkte sie. Zumindest war sie darüber hinweg.
Maya setzte sich hinter das Steuer des Mietwagens und drehte die Schlüssel im Zündschloss um, bevor Greg hinter ihr herausgejoggt kam.
“Maya!” rief er. “Hey, warte!” Er versuchte, den Türgriff auf der Beifahrerseite zu ziehen, doch sie hatte schon die Türen verschlossen. “Mach schon. Lass mich rein.”
Sie begann, rückwärts aus der Einfahrt zu fahren.
“Das ist nicht lustig!” Er schlug mit der Hand gegen eine Scheibe. “Wie soll ich denn wieder zurückkommen?”
“Deine Mama kann dir bestimmt dabei helfen”, rief sie ihm durch das geschlossene Fenster zu. “Versuch doch, sie anzurufen.”
Und dann fuhr sie weg, die Straße hinunter. Im Rückspiegel sah sie, wie Greg, mit seinen Händen ungläubig am Kopf, immer kleiner wurde. Sie wusste, dass sie dafür an der Akademie die Hölle erwartete, doch in diesem Moment war es ihr egal. Als das fremde Haus ihres Vaters kleiner hinter ihr wurde, fühlte es sich an, als ob ein Gewicht von ihren Schultern fiele. Sie war aus Familiensinn, aus Verantwortungsgefühl an diesem Tag hierhergekommen. Es war eigentlich eine Last.
Doch jetzt bemerkte sie, dass es in Ordnung für sie wäre, wenn sie die beiden oder dieses Haus nie wiedersähe. Es ginge ihr auch allein gut. Es gab keine Ende dafür und es würde niemals eines geben. Ihre Mutter war tot und ihr Vater war für sie ebenfalls gestorben.
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