“Verdammt, V. Jetzt bist du völlig ausgerastet!”
“Nein. Hör mir zu, Karina. Wenn die glauben, dass du eine Aufnahme hast, dann kannst du sie zum Verhandeln verwenden. Ohne sie bist du so gut wie tot. Auf diese Weise wollen sie dich lebendig. Und wenn der Tipp aus Richmond kommt, dann glauben sie, dass du aus der Stadt geflüchtet bist. In der Zwischenzeit arbeite ich an einem Ausweg und bringe dich da raus.”
“Das ist zu heikel, um jemanden von dir zu schicken, der mich abholt”, sagte Karina. “Ich will nicht, dass jemand wegen mir kompromittiert oder getötet wird.”
“Aber du kannst das nicht alleine schaffen, sestra.” Veronika war einen Moment lang still, bevor sie hinzufügte, “Ich glaube, ich weiß, wer helfen kann.”
“FIS?” fragte Karina.
“Nein. Ein Amerikaner.”
“Veronika —”
“Ein ehemaliger CIA Agent.”
Das war es. Ihre Schwester war tatsächlich von Sinnen und Karina ließ es sie wissen.
“Vertraust du mir?” fragte Veronika.
“Vor einer Minute hätte ich noch ja gesagt…”
“Vertrau mir jetzt, Karina. Und vertraue diesem Mann. Ich sage dir, wo du hin musst und wann du da sein musst.”
Karina seufzte. Welche Wahl hatte sie schon? V. hatte recht. Sie konnte nicht alleine dem Geheimdienst, den Russen und jedem anderen, den sie hinter ihr herschickten, aus dem Weg gehen. Sie brauchte Hilfe. Und sie vertraute ihrer Schwester, auch wenn dieser Plan ihr aberwitzig vorkam.
“OK. Wie erkenne ich diesen Mann?”
“Wenn der immer noch gut ist, dann erkennst du ihn nicht, “ erwiderte Veronika, “aber er wird dich erkennen.”
Sara inspizierte sich im Badezimmerspiegel, während sie ihren Zopf zurechtzog. Sie hasste ihr Haar. Es war zu lang, sie hatte es seit Monaten nicht mehr schneiden lassen. Die Spitzen waren gespalten. Etwa sechs Wochen zuvor hatte sie es Camilla mit einer Tönung aus der Drogerie rot färben lassen. Auch wenn es ihr damals gefiel, so sah man jetzt ihre hellblonden Wurzeln, die sich an den ersten Zentimetern zeigten. Das sah einfach nicht gut aus.
Sie hasste das dunkelblaue Poloshirt, das sie zur Arbeit tragen musste. Es war ihre eine Nummer zu groß und auf der linken Brust stand “Swift Thrift”. Die Buchstaben waren ausgeblichen, die Ecken vom vielen Waschen zerfranst.
Sie hasste ihre Arbeit beim Secondhandladen, wo es ständig nach Mottenkugeln und abgestandenem Schweiß roch und sie vorgeben musste, nett zu unhöflichen Kunden zu sein. Sie hasste es, dass sie als Sechzehnjährige ohne High School Abschluss nicht mehr als neun Dollar die Stunde verdienen konnte.
Doch sie hatte eine Entscheidung getroffen. Sie war fast unabhängig.
Die Badezimmertür ging plötzlich auf, wurde von der anderen Seite aufgestoßen. Tommy hielt inne, als er sie vor dem Spiegel stehen sah.
“Was zum Teufel, Tommy!” rief Sara. “Ich bin hier drin!”
“Warum hast du die Tür nicht abgeschlossen?” erwiderte er.
“Sie war doch zu, oder nicht?”
“Beeil dich! Ich muss pinkeln!”
“Raus jetzt!” Sie drückte die Tür zu und ließ den älteren Jungen hinter ihr fluchen. Das Leben in einer Wohngemeinschaft war alles andere als glamourös, doch sie hatte sich in dem letzten Jahr, seit sie hier wohnte, daran gewöhnt. Oder war es schon länger? Dreizehn Monate oder so, berechnete sie.
Sie legte etwas Wimperntusche auf und inspizierte sich erneut. Das reicht, dachte sie. Trotz Camillas Bemühungen trug sie nicht gerne viel Makeup. Und außerdem wuchs sie immer noch.
Sie ging gerade rechtzeitig aus dem Bad, das zur Küche hinaus öffnete, um zu sehen, wie Tommy sich von der Spüle abwandte und seinen Hosenstall zumachte.
“Oh Gott”, zuckte sie zusammen, “bitte sag mir, dass du nicht gerade in die Spüle gepinkelt hast.”
“Du hast zu lange gebraucht.”
“Gott, du bist widerlich.” Sie ging auf den alten beigen Kühlschrank zu und nahm eine Flasche Wasser heraus – ganz sicher tränke sie jetzt kein Leitungswasser, so viel stand fest – und als sie ihn wieder schloss, bemerkte sie die Tafel.
Sie zuckte erneut zusammen.
An der Kühlschranktür hing eine magnetische Tafel mit sechs Namen in schwarzer Schrift, alle Mitbewohner. Unter jedem Namen stand eine Nummer. Alle sechs waren für einen Teil der Miete verantwortlich und teilten sich auch die Rechnungen monatlich. Konnten sie ihren Teil nicht zahlen, dann hatten sie drei Monate Zeit, um ihre Schulden zu tilgen, sonst mussten sie ausziehen. Die Nummer unter Saras Namen war die größte.
Die Wohngemeinschaft war wirklich nicht der schlimmste Ort in Jacksonville. Das alte Haus brauchte ein paar Reparaturen, doch es war kein Desaster. Es gab vier Schlafzimmer, drei von ihnen waren von jeweils zwei Personen bewohnt und das vierte wurde als Aufbewahrungs- und Arbeitszimmer benutzt.
Ihr Vermieter, Mr. Nedelmeyer, war ein deutscher Typ, Anfang vierzig, der mehrere Immobilien wie diese in der Jacksonville Innenstadt besaß. Er war ziemlich entspannt, wenn man es sich genau überlegte. Er bestand sogar darauf, dass sie ihn einfach,Nadel’ nannten, was in Saras Ohren wie ein Name für einen Drogenhändler klang. Doch mit Nadel konnte man einfach umgehen. Es war ihm egal, ob Freunde über Nacht blieben oder ob sie hin und wieder eine Party veranstalteten. Drogen waren ihm egal. Er hatte nur drei Hauptregeln: wirst du verhaftet, dann fliegst du raus. Kannst du nach drei Monaten nicht bezahlen, dann fliegst du raus. Greifst du einen Mitbewohner an, dann bist du draußen.
Während sie da auf die Tafel am Kühlschrank starrte, machte Sara sich um die zweite Regel Sorgen. Doch dann hörte sie eine Stimme in ihrem Ohr, die sie über Regel drei beunruhigte.
“Was ist denn los kleines Mädchen? Hast du Angst wegen der großen Nummer da unter deinem Namen?” Tommy lachte, als ob er einen tollen Witz erzählt hätte. Er war neunzehn, schlaksig und knöchern und hatte auf beiden Armen Tätowierungen. Er und seine Freundin Jo teilten sich eines der Schlafzimmer. Keiner von ihnen arbeitete. Tommys Eltern schickten ihm jeden Monat Geld, mehr als genug, um ihre Ausgaben in der Wohngemeinschaft zu decken. Den Rest gaben sie für Kokain aus.
Tommy hielt sich für einen knallharten Typen. Doch er war nur ein Vorstadtkind in den Ferien.
Sara drehte sich langsam um. Der ältere Junge war fast dreißig Zentimeter größer als sie und stand nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt. “Ich glaube”, sagte sie langsam, “du solltest ein paar Zentimeter zurücktreten.”
“Ansonsten?” grinste er bösartig. “Willst du mich schlagen?”
“Natürlich nicht. Das wäre gegen die Regeln.” Sie lächelte unschuldig. “Aber weißt du, kürzlich nahm ich ein kleines Video auf. Du und Jo, wie ihr Kokain vom Kaffeetisch geschnupft habt.”
Ein verängstigter Blick huschte über Tommys Gesicht, doch er blieb hart. “Na und? Nadel ist das egal.”
“Das hast du recht, ihm ist das egal.” Sara flüsterte weiter. “Aber Thomas Howell, der bei Binder & Associates arbeitet? Dem ist das vielleicht nicht egal.” Sie lehnte ihren Kopf zur Seite. “Das ist dein Papa, stimmt’s?”
“Woher…?” Tommy schüttelte seinen Kopf. “Das würdest du nicht wagen.”
“Vielleicht nicht. Liegt ganz an dir.” Sie ging an ihm vorbei, rempelte ihn rau mit ihrer Schulter dabei an. “Hör auf, in die Spüle zu pinkeln. Das ist widerlich.” Dann ging sie nach oben.
Sara hatte Virginia mehr als ein Jahr zuvor als eine verängstigte, naive Fünfzehnjährige verlassen. Nur wenig mehr als ein Jahr war vergangen, doch sie hatte sich verändert. Im Bus von Alexandria nach Jacksonville hatte sie sich zwei Regeln auferlegt. Die erste Regel besagte, dass sie niemanden um nichts bitten würde, am wenigsten ihren Vater. Und sie hielt sich daran. Maya half ihr hin und wieder ein wenig aus und Sara war dankbar – doch sie bat nie darum.
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