„Was hast du denn?“, fragte der Direktor und dämpfte dabei die Lautstärke seiner Stimme.
„Sie nehmen mir kein Blut ab!“, heulte der Junge unter Tränen.
Banow kauerte sich nieder und sah dem Oktobristen in die Augen.
„Nicht weinen, du bist doch ein Mann!“, sagte der Schuldirektor. „Und warum nicht?“
„Sie wollen nicht“, klagte der Junge.
„Na komm, wir werden das klären!“ Banow stand auf, nahm den Jungen an der Hand und führte ihn in das Klassenzimmer, in dem die Spendebrigade arbeitete.
Vor der Tür des Zimmers wartete die Klasse 1B.
Entschlossen trat Banow ein, indem er den Oktobristen hinter sich herzog, der mit dem Schuldirektor kaum Schritt halten konnte.
„Wie können Sie nur!“, wandte er sich mit aller Strenge an den hageren Brigadeleiter. „Warum nehmen Sie ihm kein Blut ab?“
„Na, sehen Sie sich ihn einmal selbst an!“, stammelte Fjodor Palytsch. „Er ist doch ganz blau, also zyanotisch! Wie können wir ihm da auch noch Blut abnehmen?“
„Sind Sie ein Kommunist?“, fragte Banow mit finsterem Blick.
„Ich bin Arzt und Kommunist“, antwortete der Brigadeleiter.
„Sagen Sie mir, was Sie in erster Linie sind, Arzt oder Kommunist? Was ist für Sie wichtiger?“
Der Arzt kaute auf seiner Lippe herum. Nach einer Minute seufzte er und sagte:
„Kommunist…“
„Also, dann nehmen Sie ihm wenigstens hundert Gramm ab!“, entgegnete der Schuldirektor und seine Stimme klang schon sanfter, denn er fand keinen Gefallen daran, so grob zu sein.
„Vera!“, drehte sich Fjodor Palytsch zu einer der Schwestern um. „Nehmen Sie ihm hundert Gramm in einen eigenen Behälter ab!“
„Geh zu Tante Vera!“, beugte sich Banow zu dem Jungen hinab, der bereits zu weinen aufgehört hatte. „Geh nur, sie nimmt dir Blut ab!“
Nachdem er in sein Zimmer zurückgekehrt war, sah er wieder auf die Uhr.
Fünfzehn Minuten nach eins.
Nur noch zwei erste Klassen, dann konnte er den Appell abhalten. Er musste jedoch auch den letzten noch zehn Minuten Zeit lassen für ihre Feiertagsjause.
Der zuvor noch in Tränen aufgelöste Oktobrist verließ nun die Spendebrigade mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesichtchen, während er sich die rechte Armbeuge hielt. Er ging wieder zum Fenster, blickte zum Himmel und musste gleich darauf die Augen zusammenkneifen, da ganz unerwartet ein Sonnenstrahl durch die Wolken gedrungen war.
Bald war die Blutabnahme beendet. Die Spendebrigade packte die Nadeln gemeinsam mit den anderen Instrumenten ein. Fjodor Palytsch verschloss mit desinfizierten Gummipfropfen die großen Behälter, die das gespendete Blut enthielten, da bemerkte er plötzlich ein Gefäß auf dem Tisch, das nur zur Hälfte mit Blut gefüllt war.
„Welche Blutgruppe?“, fragte er die Schwestern. „Wer hat vergessen, das dazuzuleeren?“
„Das ist von dem Zyanotiker!“, antwortete Vera. „Sie haben doch selbst gesagt, in einen eigenen Behälter.“
„Aha!“, nickte Fjodor Palytsch, ergriff das Gefäß und leerte das Blut in einen Blumentopf mit einer Aloe, der auf dem Fensterbrett stand.
Eine der Schwestern holte ein Wurstbrot aus ihrer Tasche, nachdem sie ihren Kittel ausgezogen hatte, und machte sich daran, es hinunterzuschlingen.
Fjodor Palytsch sah sie an und runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Auch er war müde und hungrig.
Die Schüler stellten sich im ersten Stock auf und warteten auf den Beginn des Appells.
Alle waren ordentlich gekleidet und frisiert. Alles war wie immer, nur die Gesichter einiger Schüler und Schülerinnen waren etwas blass. Die Oktobristen gähnten.
Nachdem Vizedirektor Kuschnerenko dem Direktor berichtet hatte, dass alle bereit waren, verließen sie gemeinsam das Zimmer. Der Vizedirektor trug die Schachtel mit den Abzeichen.
Banow blieb in der Mitte stehen, erklärte den feierlichen Appell für eröffnet und beglückwünschte alle Schüler zum landesweiten Tag der Spende.
Hierauf traten die Klassenältesten der Reihe nach vor und meldeten:
„Genosse Direktor! Klasse 10A hat Blut gespendet!“
„Genosse Direktor! Klasse 10B hat Blut gespendet!“
Das dauerte zehn Minuten. Danach begann der wichtigste Teil als Abschluss des Festtags. Jeder Lehrer las die Liste der Schüler seiner Klasse laut vor, woraufhin jeder, sobald er aufgerufen wurde, zum Direktor ging und von ihm das Abzeichen „Roter Spender“ erhielt.
Den Karton mit den Abzeichen hielt der Vizedirektor Kuschnerenko in der Hand, und alle paar Sekunden tastete Banow ohne hinzusehen nach dem nächsten Abzeichen. Schon waren seine Finger von den Nadeln ganz zerstochen, mit denen die Abzeichen befestigt wurden. Wenn das Ganze nur so schnell wie möglich zu Ende geht!, dachte der Schuldirektor.
„Zymbaljuk Viktor!“, las der nächste Lehrer.
„Zyganok Pjotr!“
„Robert Rojd!“
Als Banow den vertrauten Namen hörte, hob er den Kopf und blickte den Schüler an, der auf ihn zusteuerte. Robert ging leichtfüßig und lächelte über das ganze Gesicht. Keinerlei Blässe, ein gesunder Bursche, dachte der Schuldirektor und lächelte ebenfalls. Seine rechte Hand griff wieder in die Schachtel und seine kribbelnden, zerstochenen Finger zogen diesmal zwei Abzeichen hervor.
Der Junge schaute Banow verwundert in die Augen, aber dieser nickte nur zur Bestätigung, dass alles seine Richtigkeit hatte. Dann drückte er kräftig Roberts Hand.
Banow war wieder bei Laune und voller Schwung. Nun teilte er die Abzeichen ohne düstere Gedanken aus und vergaß seine zerstochenen Finger, seine Müdigkeit und den bevorstehenden Herbstregen.
Bald nachdem die Ernte eingebracht war, fiel im Neuen Gelobten Land Schnee. Wie sich das für den ersten Schnee gehörte, schneite es in der Nacht, und am Morgen liefen alle menschlichen Bewohner der Ställe hinaus auf den Hof und ließen ihrer Freude freien Lauf. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Das Bild der im Schnee umhertollenden Kinder und Erwachsenen ließ im Engel ein Gefühl reiner Freude aufkommen. Unter den tobenden und fröhlich lachenden Siedlern entdeckte der ehemalige Himmelsbewohner auch den Buckligen, den Ofensetzer Sachar und alle Kinder, acht an der Zahl. Auch ihn selbst drängte es, sich ihnen anzuschließen und sich mit ihnen zu vergnügen. Der Engel machte einen Schritt und dann noch einen. Dabei lauschte er dem zauberhaften, geheimnisvollen Knirschen des Schnees. In diesem Geräusch lag etwas erstaunlich Reines, ja fast Paradiesisches. In dieser Reinheit wiederum lag etwas Göttliches, und der Engel wunderte sich: Warum fiel im Paradies kein Schnee? Doch gleich darauf fand er eine Erklärung, die ihn befriedigte. Der Schnee war doch ein Zeichen von Kälte, und im Paradies war es schließlich immer warm. Es wurde nur leichte Kleidung getragen, immerzu blühten die Blumen und ringsum grünte alles. Nicht so wie hier, wo über Nacht der zwar schöne, aber todesähnliche Winter eingefallen war.
„He, Engel!“, rief einer von denen, die herumtobten. „Komm zu uns!“
Der Engel lächelte, lief zu den fröhlichen Menschen und suchte unter ihnen Katja.
Er fand sie und eilte zu ihr.
„Ah, Engelchen!“, lächelte sie. „Glückwunsch zum ersten Schnee!“
Und mit ihren roten Lippen, die ganz kalt waren, gab ihm die Lehrerin einen Schmatz auf die Wange.
Der Engel erstarrte. Katja aber entdeckte plötzlich Arbeiter, die an Seilen eine Reihe von Holzschlitten vom Schuppen herüberzogen, sie lief zu ihnen und rief:
„Lasst mich als Erste! Ich will die Erste sein!“
Als die Siedler des Neuen Gelobten Landes vom Herumtollen genug hatten, stellten sie sich in einer Reihe auf, setzten sich auf die Schlitten und rutschten mit fröhlichem „Oh!“ und „Ah!“ den Hügel hinab. Die Lehrerin Katja sauste tatsächlich als Erste auf ihrem Schlitten hinunter und lachte unter ausgelassenem Rufen.
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