Der Lehrer schwieg bedrückt und wartete auf die Entscheidung des Direktors.
Währenddessen überlegte Banow, was er tun sollte. Dserschinskij abnehmen und an seiner Stelle Kalinin aufhängen? Oder die Uhr von der anderen Wand nehmen und das Bild dorthin hängen? Wieder klopfte es an der Tür. Dreimal.
Ein Beamter des Narkompros vom Rang eines Oberleutnants kam herein. Er hatte eine ziemlich große, versiegelte Sperrholzkiste bei sich, die er auf den Tisch des Direktors stellte. Hierauf bat er Banow, eine Empfangsbestätigung zu unterschreiben. Dann salutierte er und ging.
Banow sah zuerst die versiegelte Kiste an, dann den Lehrer Moschajkin, und der Lehrer begriff.
„Entschuldigen Sie“, sagte er, „ich lasse das hier… Sie haben zu tun…“
Nachdem Moschajkin das Kalinin-Porträt ans Bücherregal gelehnt hatte, verließ auch er das Zimmer.
Nunmehr allein stellte Banow erst einmal den Teekessel auf den Petroleumkocher. Dann brach er das Siegel der Kiste. Er fand einen Karton mit der Aufschrift: „Abzeichen ‚Roter Spender‘ – 1000 Stück“ darin, daneben lagen als verschnürtes Päckchen mit derselben Aufschrift die Vergaberichtlinien sowie noch ein ähnliches Päckchen, das die Noten und den Text des neuen Liedes von Orlow-Nadeschin „Der jugendliche Spender“ enthielt.
Banows Gedanken kehrten zum Kalinin-Bild zurück. Er wollte dieses Problem so schnell wie möglich lösen, um dann in Ruhe eine Tasse Tee zu genießen. Und wenn ich ihn einfach neben Dserschinskij hänge?, überlegte Banow, und dieser Gedanke schien ihm ganz vernünftig. In der Tischlade fand er eine Schachtel mit Nägeln und einen kleinen Hammer. Dann stellte er sich auf den Stuhl und schlug einen Nagel in die Wand – genau auf der Höhe von Dserschinskijs Nase, nur etwas weiter rechts, einen halben Meter neben dem Porträt dieses Ritters der Revolution.
Nachdem Kalinin an der Wand hing, ging Banow zum Bücherregal und betrachtete von dort aus die beiden Porträts.
Ja…, dachte er und seufzte in Gedanken. Sie sehen ja aus wie Brüder! Sie sind einander doch sehr ähnlich!
Dann bemerkte er, dass das Dserschinskij-Porträt ein wenig höher hing als das Kalinin-Porträt, aber er unternahm nichts dagegen.
Die Zeit verging langsam. Die Herbstsonne, die manchmal hinter den Wolken hervorschien, malte das Quadrat des Fensters auf den Boden des Zimmers.
Schon schmückten im ersten Stock Spruchbänder den blitzblank geputzten Korridor. Vor der Tür der Direktion war es still geworden. Bevor Kuschnerenko mit dem zweiten Stock begann, schaute er bei Banow vorbei, um ihm mitzuteilen, dass die Nägel reichen würden.
Alles war gut.
Dem Direktor blieb nichts zu tun, und so las er die Vergaberichtlinien „Roter Spender“ und dann auch noch das Lied des Komponisten Orlow-Nadeschin.
Eine Richtlinie wie jede andere, dasselbe gilt auch für das Lied. Nicht besonders neu, dachte Banow.
Wieder klopfte es an der Tür.
Herein trat ein Mann in fortgeschrittenem Alter mit graumeliertem Haar. Er war sorgfältig und auffällig gekleidet und blieb in der Mitte des Zimmers stehen.
Banow blickte ihn fragend an und wartete darauf, dass er etwas sagen würde, aber der Mann sah Banow einfach nur an. Mit einem Mal kamen dem Schuldirektor die Augen des Mannes bekannt vor. Es waren müde, zusammengekniffene Augen.
„Sind Sie Genosse Banow?“, beendete der Mann das Schweigen.
„Ja“, antwortete der Direktor.
„Mein Name ist Karpowitsch“, sagte der Mann. „Wasilij Karpowitsch…“
Banow drehte den Kopf ein klein wenig zum Fenster und sah Karpowitsch aus den Augenwinkeln an, um ihn genauer betrachten zu können.
Karpowitsch, Karpowitsch…, wiederholte der Schuldirektor in Gedanken.
„Im neunzehner Jahr bei Jekaterinoslaw… Erinnern Sie sich, ich habe Ihnen Munition gebracht… zwei Kisten… auf den Glockenturm. Außerdem hat sich die Verriegelung Ihrer ‚Maxim‘ verklemmt.“
Diese Hinweise brachten Banow den Vorfall wieder deutlich in Erinnerung und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln.
„Setzen Sie sich!“, sagte er zu Karpowitsch. „Wollen wir Tee trinken?“
Karpowitsch lächelte erleichtert und nickte.
Der Schuldirektor holte zwei Tassen. Der Teekessel stand bereits auf dem Petroleumkocher am Fensterbrett, der nur noch etwas gerüttelt und angezündet werden musste.
„Vor kurzem las ich in der Zeitung von dieser Schule und plötzlich sehe ich – Schuldirektor W. Banow…“, erzählte Karpowitsch. „Also habe ich beschlossen, dich ausfindig zu machen und herauszufinden, ob das du bist. Entschuldige, dass ich gleich zum ‚Du‘ übergegangen bin, vielleicht…“
„Aber nein, hör auf!“, unterbrach ihn Banow. „Wir sind doch keine Wichtigtuer! Wo bist du eigentlich jetzt?“
„Hier, in Moskau. Irgendwie hat es bei mir beruflich nicht so geklappt nach dem Krieg… Ich arbeite als Hausmeister im Kreml…“
„Im Kreml?!“, wiederholte Banow. „Und du sagst, dass es nicht geklappt hat!“
„Naja…“, zuckte Karpowitsch die Achseln. „Hausmeister klingt nicht so besonders. Obwohl natürlich nicht jeder Dahergelaufene im Kreml als Hausmeister eingestellt wird… Ich kenne dort schließlich arbeitsbedingt verschiedenste Geheimnisse. Ich habe sogar im NKWD eine Verschwiegenheitserklärung abgeben müssen.“
„Da siehst du mal“, sagte Banow ernst. „Bei mir gibt es überhaupt keine Geheimnisse, musst du wissen, in der Schule geht es nur um Kinder und Lehrer, kurz gesagt um den Lehrbetrieb. Es ist oft entsetzlich langweilig. Oft sehne ich mich zurück auf den Glockenturm und…“
„Ja“, nickte Karpowitsch. „Das passiert mir auch… Da kehrt man so vor sich hin, und plötzlich kommt es einem einen Moment lang so vor, als hätte man keinen Besen in der Hand, sondern ein Gewehr…“
Karpowitsch seufzte und blickte auf den Teekessel. Dann sagte er:
„Das Wasser kocht!“
„Bist du verheiratet?“, fragte Banow.
„Nein. Das hat auch nicht geklappt… Als ich im Krieg war, hatte ich eine Frau… Und du?“
„Ich auch nicht“, antwortete der Schuldirektor nach einer kurzen Pause.
„Weißt du was“, senkte Karpowitsch plötzlich die Stimme. „Ich werde dir als altem Kampfgenossen ein Geheimnis erzählen…“
Banow fühlte sich unbehaglich. Er bekam Angst um Karpowitsch, schließlich hatte dieser eine Erklärung abgegeben, und nun wollte er dagegen verstoßen. Allerdings weckte das Geheimnis, worum auch immer es gehen mochte, Banows Neugier. Er hatte die Langweiligkeit des Lebens satt.
„Naja, weißt du… er lebt!“ Karpowitsch flüsterte nun leise.
„Wer?“
„Na er, du weißt schon: Er lebte, er lebt, er wird leben… na der Kremlträumer… so nennt man ihn dort unten!“
„Unten?“ Banow bohrte nachdenklich in seinem Ohr, dann blickte er Karpowitsch fragend an. „Wo unten?“
Karpowitsch seufzte tief. Es war offensichtlich, dass er nicht vorgehabt hatte, mehr preiszugeben, als er bereits getan hatte, aber er beschloss, seinem verständnislosen Kampfgenossen entgegenzukommen, und flüsterte:
„Unter dem Kreml…“
„Lass uns Tee trinken, er hat bereits gekocht…“, stammelte der verblüffte Banow.
Nach alter Gewohnheit blies Karpowitsch vor jedem Schluck lange auf den Tee. Er nahm immer zwei Stück Zucker auf einmal und schluckte sie, wie Banow schien, ohne zu kauen.
Banow machte sich die Stille zunutze, um über das Geheimnis nachzudenken, das er soeben erfahren hatte. Kann es denn stimmen, dass er wirklich lebt?, dachte er. Aber wenn es stimmt, warum wird es dann vor allen geheim gehalten? Warum versteckt man ihn? Nein, irgendetwas stimmte hier nicht, und wie die Wahrheit hörte sich das nicht an…
Offenbar hatte Karpowitsch den Zweifel in Banows Gesicht bemerkt und sagte deshalb nach dem nächsten Schluck:
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