Andrej Kurkow
DER WAHRHAFTIGE VOLKSKONTROLLEUR
Roman
Aus dem Russischen von Kerstin Monschein
Von den Höfen her hörte man das Kläffen der Dorfhunde, die mit ihren Ketten rasselten und den sich herabsenkenden Abend ankündigten. Jemand hackte mit einer stumpfen Axt Holz, um sich auf den kommenden Winter vorzubereiten. Vom fernen Rand des Dorfes drang das Fluchen eines Betrunkenen. Die Stimme war so heiser, dass der Geruch von Fusel trotz der Entfernung zu spüren war. Unter der Hüttendecke gingen die Iljitsch-Lampen an, die nicht gleichmäßig, sondern in Intervallen leuchteten, sie beugten sich den Launen des elektrischen Stroms, der sich über die vor Spannung brummenden Leitungen in jede Kolchosfamilie einschlich wie ein unsichtbarer, geheimer Feind.
Eine solche Lampe brannte auch auf dem Hauptplatz des Dorfes, genau zwischen dem Klubhaus und der Kolchosverwaltung. Ihr Licht neigte sich durch den leichten Wind mal zur einen, mal zur anderen Seite. Und genau in dieses schwankende Licht strömte aus dem Klubhaus eine Schar geschäftig lärmender Kolchosbauern. Die Menge durchquerte es, verteilte sich auf die Häuser und trug in jedes davon neue Gedanken, um dem gleichförmig verlaufenden Leben einen neuen Sinn zu verleihen.
Auch Pawel Dobrynin ging müde zu seinem Haus – ein Mann, der eigenwillig war wie der elektrische Strom, aber durch und durch ehrlich und deshalb nicht beliebt im Kolchosbezirk. Beim Gehen wunderte er sich, wie schwer ihm an diesem Abend jeder Schritt fiel, wie schwer ihm das Atmen war, er wunderte sich, dass die Sterne mit einem Mal matt und verschämt am wolkenlosen Himmel zitterten. Er ging also langsam dahin und dehnte seinen Weg aus, lauschte dem ungeordneten Hundechor und vernahm darin das Bellen seines Hundes Dmitrij, oder einfach Mitka. Der Hund Mitka war seinem Herrn irgendwie ähnlich, wahrscheinlich vor allem darum, weil ihn kein einziger Dorfhund leiden mochte, obgleich er ein ausgezeichneter Wachhund und Rüde war.
Das Tor quietschte, und noch lauter und freudiger bellte der Hund, der seinen Herrn witterte.
Pawel betrat den Hof, hatte es aber nicht eilig, ins Haus zu kommen, sondern ging zum Fenster, hielt dort inne und sah zu, wie seine geliebte Frau Manjascha den drei Monate alten Petka in ihren Armen wiegte. Nachdem er einige Zeit so dagestanden hatte, hob Pawel den Blick zum Himmel und wartete, bis er eine Sternschnuppe sah – anscheinend war es kein sehr wichtiger und nützlicher Stern –, und er wünschte sich in Gedanken etwas. Dann erst öffnete er die Tür und betrat das Haus.
Seine Frau freute sich still, als ihr Mann hereinkam. Sie stand da und sah zu, wie er die Stiefel von den Füßen streifte. Dann kam sie plötzlich zu sich, eilte zum Herd und schob den Kessel mit dem Abendessen für ihren Mann näher an die Glut.
„Nun, worüber habt ihr auf der Versammlung geredet?“, durchbrach Manjascha die gemütliche häusliche Stille.
Pawel seufzte schwer. Er schwieg eine Weile, dann sagte er, während er seine Worte sorgsam wählte:
„Man hat mir eine schwierige Ehre erwiesen…“
„Wie das?“, fragte die Frau, erschrocken über den unverständlichen Satz des Mannes. Pawel holte Luft, bückte sich und setzte sich an den Tisch.
„Man hat mich zum Kontrolleur gewählt.“
„Für die Kolchose, oder wie?“
„Nein.“ Pawel schüttelte den Kopf und seufzte wieder. „Für das ganze Land.“
„Wie das?“
„Hier nimm und lies!“ Pawel streckte ihr den Zettel mit dem bedeutsamen violetten Stempel der Kolchosverwaltung entgegen.
„Lies du vor“, bat Manjascha. „Du weißt ja, ich tu mir mit dem Lesen schwer…“
„Hiermit wird bestätigt, dass Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin auf der allgemeinen Kolchosversammlung zum Arbeitskontrolleur auf Lebenszeit für die ganze Sowjetunion gewählt wurde. Ihm wird der Rang ‚Volkskontrolleur‘ verliehen, und er untersteht unmittelbar der höchsten Führungsebene des Landes. Leiter von Institutionen und Werken, die einer Kontrolle unterzogen werden, sind verpflichtet, den Volkskontrolleur zu verpflegen und seine Arbeit gemäß seinen Forderungen und der für die Kontrolle aufgewendeten Zeit abzugelten.“
„Wie kann das sein?“, fragte Manjascha, und in ihren Augen glänzten bereits Tränen. „Wie kann das sein? Das heißt doch, dass sie dich fortschicken! Großer Gott! Sie schicken dich doch absichtlich fort!“
„Aber nein“, sagte Pawel langsam und unsicher. „Das ist eine Ehre… Man hat mich doch gewählt. Dann werde ich abgelöst und komme nach Hause… Und du passt auf die Kinder auf.“
Bei der Erwähnung der Kinder brach Manjascha in Tränen aus. Davon erwachte der drei Monate alte Petka, weinte und schrie gemeinsam mit ihr.
Auch Pawel spürte, dass sich seine Augen gleich mit Tränen füllen würden, und er ballte seine Hände so fest wie möglich zu Fäusten, um sich zu beherrschen.
Am Morgen brach er auf. Aus dem Bezirk war ein Fuhrwerk geschickt worden. Auf dem Kutschbock saß ein greiser Zwerg von nur anderthalb Metern. Er rauchte eine selbstgedrehte Zigarette und schielte nach der Türschwelle, wo Pawel sich von seiner Frau verabschiedete.
Der Abschied fiel schwer. Manjascha hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, sie hatte den Reisesack für ihren Mann gepackt. Schließlich war sie doch noch fertig geworden.
„Dann gehe ich also“, sprach Pawel schließlich entschlossen, um die unvermeidliche Quälerei augenblicklich zu beenden.
„Warte!“ Seine Frau klatschte plötzlich in die Hände und lief hinters Haus zum Holzschuppen.
Was braucht sie noch von dort?, überlegte Pawel, aber schon nach einer halben Minute war Manjascha wieder zurück. In ihren Augen standen noch die Tränen von vorher, und in ihren Händen hielt sie eine Axt.
„Da, nimm die mit auf die Reise!“, bat sie.
„Wie meinst du das?“, wunderte sich Pawel. „Eine Axt? Wozu brauche ich die dort?“
„Nimm sie doch!“, beharrte die Frau. „Wie kannst du dort ohne Werkzeug sein… Was ist, wenn du auf Banditen stößt?“
„Na gut.“ Pawel nahm die Axt, warf sich die Tasche über die Schulter und ging zum Fuhrwerk.
Manjascha folgte ihm, aber ihr Schritt war unsicher, sie sah den Weg nicht vor sich, da sie das Gesicht mit den Händen bedeckt hielt und weinte. Schließlich blieb sie irgendwo zwischen Haus und Tor stehen und erstarrte dort.
„Auf geht’s!“, schnauzte der greise Zwerg sein Pferd an, und die hölzernen Räder klapperten über den abgefahrenen Schotterweg.
Nachdem die Sonne über dem Zifferblatt des Himmels einen Halbkreis beschrieben hatte, tauchten ihre Strahlen hinter den Horizont hinab, dorthin, wo der Abgrund begann. Eingehüllt in die abendliche Dunkelheit gähnte auf der Erde alles Leben, bereitete sich auf den Kraft spendenden Schlaf vor; und sogar die Pflanzen schlossen ihre Blüten, damit die summenden Insekten, die wegen ihrer Schnelllebigkeit keine Müdigkeit kannten und keinen Schlaf brauchten, sie nicht umkreisten. Alles hielt inne, alles war friedlich, außer der Luft, die der Atem von Mensch und Tier in Bewegung hielt.
Inmitten der Stille kam ein Engel auf die Erde herab. Er blickte sich nach allen Seiten um und legte sich ins Gras, nachdem er sich von der Ruhe der Welt ringsum überzeugt hatte. Sofort verspürte er Müdigkeit – der Weg herab war weder leicht noch schnell gewesen. Als der Engel die Augen schloss, hatte er einen Traum, der eigentlich kein Traum war, sondern eine Erinnerung an jenen schweren Tag, an dem er sich endlich entschlossen hatte, seine Brüder und Schwestern zu verlassen, die dieselben weißen Gewänder trugen wie er, also das Paradies zu verlassen, um in dieses rätselhafte Land herabzukommen, das riesig war und voller Geheimnisse und über das keiner von seinen inzwischen schon ehemaligen Mitbrüdern mehr wusste, als dass dessen Bewohner nach dem Tod nicht ins Paradies gelangten. Vielleicht hatte mit diesem seltsamen Wissen sein Traum von einer Reise hierher begonnen, aber es war keine gewöhnliche Neugier, die ihn dazu gebracht hatte, einen dermaßen schwierigen Weg anzutreten: Er wollte einfach nicht glauben, dass es in einem so großen Land keine Gerechten gab, beweisen konnte er es allerdings nicht. Wenn es nämlich Gerechte gegeben hätte, dann wären die Pforten des Paradieses für sie immer offen gewesen. Da er also das, was für die anderen Bewohner des Paradieses unumstößlich war, nicht glauben mochte, hatte er beschlossen hierherzukommen, um einen wirklich Gerechten zu finden, diesen auf dessen irdischem Weg bis zum Ende zu begleiten, ihn dann durch die weiße, mit Perlen und Diamanten verzierte Pforte zu führen und von seinen Brüdern und Schwestern Vergebung dafür zu erlangen, dass er das Paradies eigenmächtig und heimlich verlassen hatte.
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