„Glaubst du mir etwa nicht?“
Banow schwieg.
„Ich habe ihn schon einige Male mit meinen eigenen Augen gesehen, so wie dich jetzt. Wenn der Bote beschäftigt oder krank ist, dann bringe ich an seiner Stelle die Post, die Briefe und Pakete…“
„Und wer schreibt ihm?“, wunderte sich Banow. „Es wissen doch alle, dass er gestorben ist!“
„Nicht alle“, erklärte Karpowitsch entschlossen. „Die Bauern schreiben, die Kinder, die Arbeiter… Sie schicken sogar Pakete… Weißt du, er liebt es so sehr, Briefe und Pakete zu bekommen…“
„Und was macht er dort? Sitzt er hinter Schloss und Riegel, damit ihn niemand sieht?“
„Wieso hinter Schloss und Riegel?! Er ist immer im Grünen, auf der Wiese… Er sitzt und träumt…“
„Im Grünen… im Kreml?“ Banow riss die Augen auf, bis sie so groß wie silberne Fünfzig-Kopeken-Stücke waren.
„Im unteren Bereich des Kreml, auf den unteren Kremlwiesen… natürlich kennst du das nicht…“ Da fiel Karpowitsch plötzlich ein, dass er möglicherweise zu viel erzählt hatte. „Erzähl nur ja niemandem davon, sonst geht es mit uns ab nach Sibirien…“
Banow nickte.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte Karpowitsch nervös.
„Komm bald wieder! Du musst mich unbedingt wieder besuchen!“, bat Banow. „Abends bin ich hier ganz allein. Wir klettern auf das Dach und dann sitzen wir dort ein wenig, wir haben hier ein gutes Schrägdach…“
„Mhm“, brummte Karpowitsch. „Schreib für alle Fälle meine Telefonnummer auf, vielleicht brauchst du einmal Hilfe.“
In der Schule war es still. Draußen wurde es dunkel, oder vielleicht waren auch nur Wolken aufgezogen.
Banow schritt den Korridor im ersten Stock entlang – alles war, wie es sein sollte: Schriftbänder, Porträts, Blumentöpfe auf den weißen Fensterbänken.
Er stieg in den zweiten Stock hinauf – dasselbe Bild. Alles sah wunderbar aus.
Auch der dritte Stock war bereit für den Festtag.
Banow stieg wieder hinunter und schloss die Eingangstür ab.
Dann kletterte er auf das Dach.
Ein herbstlicher Abend war über der Hauptstadt hereingebrochen. Es gab Wolken, die gleich Regen bringen würden. Bald würde man nicht mehr auf dem Dach sitzen können, weil es zu gefährlich war. Erst wieder im Winter, wenn der Schnee nicht mehr ganz frisch war, sondern schon ein wenig hart. Aber das konnte noch eineinhalb oder zwei Monate dauern, vielleicht sogar drei.
Zwischen der Schule und dem Erlöserturm schien Licht aus den Fenstern des vor kurzem fertiggestellten Hochhauses. Der Lärm der Stadt klang ab. Nur wenige Autos fuhren durch die nahen Querstraßen der Sretenka-Straße und tasteten dabei mit ihren Scheinwerfern den Weg ab.
Banow verspürte eine innere Ruhe und dachte an den Kremlträumer. Was Karpowitsch ihm erzählt hatte, klang wie ein Märchen, aber aus irgendeinem Grund glaubte Banow allmählich, dass das, was er gehört hatte, der Wahrheit entsprach. Vielleicht deshalb, weil er Karpowitsch als altem Kampfgenossen vom ersten Moment an vertraut hatte, obwohl sie in jenen Kriegsjahren keine engen Freunde gewesen waren. Aber nichtsdestotrotz: Wenn Karpowitsch damals bei Jekaterinoslaw nicht gewesen wäre und die beiden Kisten mit Munitionsgurten für die „Maxim“ nicht gebrachte hätte, wer weiß, wie der Kampf ausgegangen wäre. Und was für ein prächtiger Glockenturm das gewesen war! Bestimmt höher als dieses Dach, mit Sicherheit sogar!
Während Banow sich an den Glockenturm erinnerte, schnalzte er mit der Zunge. Und er sah mit einem gewissen Hochmut nach unten – zwischen ihm und dem Asphalt lagen vielleicht fünfzehn Meter. War das etwa hoch?!
* * *
Diese Nacht verbrachte der Schuldirektor in seinem Büro. Er schlief gleich im Sitzen am Tisch ein, wobei er unter seinen Kopf das weiche Lederkissen vom Sitz des Besucherstuhls gelegt hatte.
Er erwachte früh. Die Uhr an der Wand zeigte halb sechs.
Er trank Tee.
Um halb sieben kam ein Anruf aus dem Narkompros. Man wollte wissen, ob alles für den Festtag vorbereitet sei, woraufhin er antwortete: „Alles bereit.“
Dann fuhr ein Ambulanzwagen vor – die Spendebrigade.
Banow begrüßte sie, half beim Ausladen und dann gingen alle gemeinsam in das extra für die Brigade bereitgestellte Klassenzimmer. Dort wurde ausgepackt und allerlei Nadeln und Eisenkästchen mit glänzenden medizinischen Instrumenten aus Chrom kamen zum Vorschein, deren Anblick bei Banow ein gemischtes Gefühl aus Respekt und Furcht hervorrief. In einer Ecke wurden sechs große Behälter in speziellen Holzgerüsten aufgestellt.
„Na dann…“ Banow breitete die Arme aus. „Es ist also alles bereit.“
„Danke“, nickte der Leiter der Brigade, ein hagerer und ziemlich junger Mann mit einer spitzen Nase.
Die vier jungen Frauen, die mit ihm gekommen waren, zogen bereits weiße Kittel über ihre Alltagskleidung.
Über der Tür des Klassenzimmers hing das Spruchband „Unser Blut für das Vaterland!“. Als Banow es gelesen hatte, fiel sein Blick auf einen jungen Pionier, der bei der Tür stand.
„Was machst denn du so früh schon hier?“, fragte ihn Banow.
„Ich möchte der Erste sein!“, sagte der Junge ent-schlossen.
„Ein guter Junge!“ Banow lächelte und tätschelte den Kopf des Pioniers.
Dann ging er zurück in sein Zimmer.
Die Schule füllte sich mit Leben. Vor seiner Tür schwirrten bereits Kinderstimmen. Das Fußgetrappel auf dem Parkett des Korridors hallte als dumpfes Echo nach.
Vizedirektor Kuschnerenko trat herein, um zu berichten, dass kein Schüler fehle.
„Gut“, sagte Banow. „Den feierlichen Appell werden wir nach der Blutspende abhalten, ich unterrichte die Lehrer davon!“
Vor der Tür zum Klassenzimmer, in dem die Spendebrigade untergebracht war, stellte sich die Klasse 10A auf. Es war beschlossen worden, mit den älteren Klassen zu beginnen, denn die waren erfahrungsgemäß am ungeduldigsten.
Banow holte die Anordnung des Narkompros aus dem Tresor, die den Ablauf des landesweiten Tags der Spende betraf, um die Normwerte für die Blutabnahme an Schülern durchzusehen.
„Klassen 8–10 – 350 Milliliter
Klassen 5–7 – 250 Milliliter
Klassen 3–4 – 200 Milliliter
Klassen 1–2 – 125 Milliliter“
Nach der Durchsicht schnaubte Banow verächtlich. Die Schüler der zehnten Klasse betrachtete er immerhin als erwachsene Menschen, und Erwachsene mussten achthundert spenden.
Die Spendebrigade war gut eingespielt. Es gab keinen Augenblick des Stillstands. Die Frauen blickten nicht einmal in die Gesichter der Spender – dafür blieb keine Zeit.
Klasse für Klasse spendete Blut, kehrte dann in Reih und Glied in ihr Klassenzimmer zurück und verteilte sich auf die Schulbänke. Dann wurden die Schüler verköstigt – vor jedem standen eine Blechtasse mit Tomatensaft und ein mit Creme gefüllter Kuchen.
Banow trat auf den Korridor hinaus, um nachzusehen, wie die Sache voranging.
Vor der Tür, hinter der die Spendebrigade arbeitete, stellte sich gerade die Klasse 6B auf.
In der Schule herrschte Stille.
„Fjodor Palytsch“, wandte sich eine Schwester an den Arzt, den Brigadeleiter. „Wir wissen nicht, ob es sich hier um die Blutgruppe A oder 0 handelt…“
„Geben Sie es zur Gruppe 0!“, antwortete Fjodor Palytsch kurz, ohne von der Vene des jugendlichen Spenders hochzusehen, den er gerade vor sich hatte.
Es war kurz vor Mittag. Der Schuldirektor blickte ungeduldig auf die Uhr. Er hatte bereits dreimal Tee getrunken. Er wollte diesen feierlichen Appell so rasch wie möglich abhalten und dann alle nach Hause entlassen.
Wieder trat er auf den Korridor hinaus und erblickte beim Fenster einen kleinen Oktobristen, der weinte.
Er ging hin und beugte sich zu ihm hinab.
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