»Das war sie«, sagte Luke. »Das weiß ich.«
»Nur noch ein kleines Stück«, sagte Gladys. »Es wird nicht lange dauern, dann darfst du wieder in dein Zimmer. Wahrscheinlich willst du dich ausruhen. Die ersten Tage können erschöpfend sein.«
»Haben Sie nicht zugehört? Das war die, die in mein Zimmer gekommen ist. Sie hat mir was ins Gesicht gesprüht.«
Keine Antwort, nur wieder das Lächeln. Jedes Mal wenn Gladys es aufsetzte, kam es ihm ein bisschen gruseliger vor.
Schließlich standen sie vor einer Tür mit der Aufschrift B31. »Benimm dich, dann kriegst du fünf Münzen«, sagte Gladys. Sie griff in die Hosentasche und holte eine Handvoll Metallscheiben heraus, die wie Vierteldollarmünzen aussahen, nur dass auf beiden Seiten ein Dreieck eingeprägt war. »Siehst du? Ich hab sie schon in der Tasche.«
Sie klopfte an die Tür. Der blau gekleidete Mann, der öffnete, war TONY. Er war groß, blond und gut aussehend, wenn man davon absah, dass er auf einem Auge leicht schielte. Luke fand, dass er wie ein Schurke aus einem James-Bond-Film aussah, zum Beispiel wie der smarte Skilehrer, der sich später als Mörder entpuppte.
»Hallo, schöne Frau.« Tony gab Gladys einen Kuss auf die Wange. »Und du hast Luke mitgebracht. Hi, Luke!« Er streckte ihm die Hand hin. Luke, der sich weiterhin an Nicky Wilholm orientierte, ergriff sie nicht. Tony lachte, als wäre das ein besonders guter Witz. »Nur hereinspaziert!«
Die Aufforderung galt offenbar ausschließlich Luke, denn Gladys gab ihm nur einen leichten Schubs an die Schulter und machte dann von außen die Tür zu. Was Luke in der Mitte sah, war erschreckend. Es erinnerte an einen Zahnarztstuhl, nur dass der hier Gurte mit Schnallen an den Armlehnen hatte.
»Setz dich, mein Freund«, sagte Tony. Nicht Kumpel, dachte Luke, aber so ähnlich.
Tony trat zu einer Arbeitsfläche, zog die Schublade darunter auf und kramte darin. Dabei pfiff er vor sich hin. Als er sich wieder umdrehte, hielt er in einer Hand etwas, was wie eine kleine Lötpistole aussah. Er schien erstaunt zu sein, dass Luke immer noch an der Tür stand, und grinste. »Setz dich, hab ich gesagt!«
»Was wollen Sie damit machen? Mich tätowieren?« Er musste daran denken, dass man den Juden Häftlingsnummern auf den Arm tätowiert hatte, wenn sie in Auschwitz im KZ ankamen. Eigentlich war das eine total lächerliche Idee, aber…
Tony blickte verblüfft drein, dann lachte er. »Du lieber Himmel, nein. Ich mache dir bloß einen Chip ans Ohrläppchen. Ist nicht anders, als wenn man ein kleines Loch für einen Ohrring sticht. Nichts Besonderes. Alle unsere Gäste kriegen so was.«
»Ich bin kein Gast«, sagte Luke und wich ein Stück zurück. »Und an mein Ohr kommt überhaupt nichts.«
»Doch, kommt es«, sagte Tony, weiterhin grinsend. Er sah immer noch wie der Typ aus, der am Babyhang den kleinen Kindern half, bevor er versuchte, James Bond mit einem Giftpfeil zu töten. »Sieh mal, es ist bloß so, wie wenn einem jemand ins Ohr kneift. Mach es uns beiden also nicht so schwer. Setz dich auf den Stuhl da, dann ist es in sieben Sekunden vorbei. Wenn du fertig bist, kriegst du von Gladys eine Handvoll Münzen. Wenn du dich weigerst, kriegst du den Chip trotzdem eingepflanzt, aber keine einzige Münze. Na, was meinst du?«
»Ich setze mich da nicht hin.« Luke fühlte sich ganz zittrig, obwohl seine Stimme sich relativ kräftig anhörte.
Tony seufzte. Behutsam legte er das Werkzeug auf die Arbeitsfläche, ging auf Luke zu und stemmte die Arme in die Hüften. Jetzt sah er ernst, ja beinahe kummervoll drein. »Bist du dir da sicher?«
»Ja.«
Luke sah kaum, wie Tonys rechte Hand hochzuckte, da dröhnte ihm schon der Kopf von einer Ohrfeige. Er taumelte einen Schritt zurück und starrte den groß gewachsenen Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Vater hatte ihm einmal ein paar (sanfte) Klapse auf den Hintern verpasst, als er im Alter von vier oder fünf Jahren mit Streichhölzern gespielt hatte, aber ins Gesicht war er noch nie geschlagen worden. Seine Wange brannte, aber er konnte immer noch nicht glauben, was geschehen war.
»Das hat eindeutig mehr wehgetan als ein Kniff ins Ohrläppchen«, sagte Tony. Sein Grinsen war verschwunden. »Willst du noch eine? Den Gefallen tue ich dir gern. Ihr Kids meint wirklich, euch gehört die Welt. Mannomann.«
Erst jetzt sah Luke, dass Tony einen kleinen blauen Fleck am Kinn und eine kleine Wunde am linken Unterkiefer hatte. Er dachte an den Bluterguss auf Nicky Wilholms Gesicht und hätte gern den Mumm gehabt, sich ebenfalls zu wehren, doch den hatte er nicht. Genauer gesagt hatte er keine Ahnung, wie man sich wehrte. Wenn er es versucht hätte, dann hätte ihn Tony wahrscheinlich nach Strich und Faden verprügelt.
»Bist du bereit, dich auf den Stuhl zu setzen?«
Luke setzte sich auf den Stuhl.
»Wirst du dich benehmen, oder muss ich dich festschnallen?«
»Ich benehme mich.«
Was er tat, und Tony hatte recht. Der Stich ins Ohrläppchen war nicht so schlimm wie die Ohrfeige, entweder weil er darauf vorbereitet war oder weil sich der Vorgang eher wie eine medizinische Prozedur als ein Angriff anfühlte. Als das erledigt war, trat Tony zu einem Sterilisator und holte eine Injektionsspritze heraus. »Runde zwei, mein Freund.«
»Was ist da drin?«, fragte Luke.
»Geht dich nichts an.«
»Wenn es mir eingetrichtert werden soll, geht es mich durchaus was an.«
Tony seufzte. »Festschnallen oder nicht? Du hast die Wahl.«
Luke dachte wieder daran, was George ihm geraten hatte. »Nicht festschnallen.«
»Braver Junge. Bloß ein kleiner Stich und fertig.«
Es war mehr als ein kleiner Stich. Nicht dass es höllisch wehgetan hatte, aber es stach ziemlich stark. Lukes Arm wurde heiß bis hinunter zum Handgelenk, als würde dort ein Fieber toben. Dann fühlte sich alles wieder normal an.
Tony klebte ihm ein durchsichtiges Pflaster auf die Haut und drehte den Stuhl dann so, dass Luke auf die weiße Wand blickte. »Mach jetzt die Augen zu.«
Luke schloss die Augen.
»Hörst du etwas?«
»Was denn?«
»Stell keine Fragen und beantworte bloß meine. Also, hörst du etwas?«
»Wenn Sie reden, kann ich bestimmt nichts hören.«
Tony hielt den Mund. Luke lauschte.
»Draußen im Flur ist jemand vorbeigegangen. Und jemand andres hat gelacht. Ich glaube, das war Gladys.«
»Sonst nichts?«
»Nein.«
»Okay, dann ist ja alles in Ordnung. Zähl jetzt auf zwanzig, bevor du die Augen öffnest.«
Luke zählte und machte dann die Augen auf.
»Was siehst du?«
»Die Wand.«
»Sonst nichts?«
Offenbar redete Tony von den Blitzen. Wenn du sie siehst, hatte George gesagt, dann sag das auch. Wenn du sie nicht siehst, ebenfalls. Lüg nicht. Die merken das nämlich.
»Sonst nichts.«
»Ganz sicher?«
»Ja.«
Tony schlug ihm so heftig auf den Rücken, dass er zusammenzuckte. »Okay, mein Freund, dann sind wir hier fertig. Ich geb dir noch ein Coolpack für dein Ohr. Und wünsche dir einen wunderschönen Tag.«
Als Tony ihn aus Raum B31 begleitete, wartete Gladys schon auf ihn. Sie hatte ihr fröhliches, professionelles Hostessenlächeln aufgesetzt. »Na, wie hast du dich gehalten, Luke?«
Die Antwort gab Tony für ihn. »Ganz prima. Braver Junge.«
»Das ist ja auch unsere Spezialität«, trällerte Gladys. »Einen schönen Tag noch, Tony!«
»Den wünsche ich dir auch, Glad.«
Vergnügt plappernd, führte sie Luke zum Aufzug zurück. Er hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Sein Arm tat nur ein bisschen weh, aber er drückte das Coolpack an sein linkes Ohr, das noch pochte. Die Ohrfeige war richtig schlimm gewesen. Aus vielerlei Gründen.
Gladys begleitete ihn durch den industriegrünen Flur, vorbei an dem Poster, unter dem Kalisha gesessen hatte, und an dem mit dem Slogan EIN TAG WIE IM PARADIES, bis sie schließlich zu dem Zimmer kamen, das wie sein Zimmer zu Hause aussah, es jedoch nicht war.
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