Er griff nach den in der Tischmitte aufgestapelten Speisekarten und verteilte sie ringsum. Ganz oben stand das Tagesdatum. Darunter aufgeführt waren die VORSPEISEN (Chicken Wings oder Tomatencremesuppe), die HAUPTGERICHTE (Bison-Burger oder Chop Suey) und die DESSERTS (Apple Pie mit Eiscreme oder etwas namens Zauberkuchen). Aufgeführt waren ferner etwa ein Dutzend Softdrinks.
»Man kann auch Milch bestellen, aber das schreiben sie nicht auf die Speisekarte«, sagte Kalisha. »Die meisten Kids wollen keine, außer sie essen Cornflakes zum Frühstück.«
»Ist das Essen wirklich gut?«, fragte Luke. Die prosaische Natur dieser Frage – so als ob das hier ein Cluburlaub mit Vollpension wäre – weckte in ihm wieder ein Gefühl von Unwirklichkeit und Orientierungslosigkeit.
»Klar«, sagte Iris. »Manchmal wiegen sie uns. Ich hab zwei Kilo zugelegt.«
»Sie mästen uns vor dem Schlachtfest«, sagte Nicky. »Wie Hänsel und Gretel.«
»Am Freitagabend und am Sonntagmittag gibt es ein Büfett«, sagte Kalisha. »All you can eat.«
»Eben, wie Hänsel und Gretel, verdammt noch mal«, wiederholte Nicky. Er drehte sich halb um und blickte zu der Überwachungskamera in der Ecke hinauf. »Kommen Sie wieder her, Norma. Ich glaube, wir sind so weit.«
Sofort tauchte Norma wieder auf, was Lukes Gefühl der Unwirklichkeit noch verstärkte. Als seine Chicken Wings und sein Chop Suey kamen, griff er trotzdem herzhaft zu. Er befand sich an einem seltsamen Ort, er hatte Angst um sich und fragte sich voll Entsetzen, was mit seinen Eltern geschehen war, aber außerdem war er erst zwölf.
Ein heranwachsender Junge.
Offenbar hatten sie alles beobachtet, wer immer sie waren, denn kaum hatte Luke sich den letzten Bissen seines Zauberkuchens in den Mund geschoben, tauchte neben ihm eine Frau auf. Sie trug eine von diesen rosa Quasiuniformen; auf ihrem Namensschildchen stand GLADYS. »Luke? Komm mit, bitte.«
Er warf einen Blick auf die anderen vier. Kalisha und Iris senkten den Kopf. Nicky sah Gladys an. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ein mattes Lächeln aufgesetzt. »Wie wär’s, wenn Sie später wiederkommen, Süße? So um Weihnachten herum. Dann kitzle ich Sie unter dem Mistelzweig.«
Sie achtete nicht auf ihn. »Luke? Bitte!«
George war der Einzige, der ihn direkt anblickte, und bei dem Ausdruck auf seinem Gesicht dachte Luke an das, was er an der Tür gesagt hatte: Überleg dir gut, wann du dich querlegst. Er stand auf. »Bis später, Leute. Hoffentlich.«
Kalisha formte mit dem Mund die Worte Spritze für Blitze.
Gladys war klein und hübsch, aber Luke hatte natürlich keine Ahnung, ob sie womöglich einen Schwarzgurt in Judo besaß und ihn locker über die Schulter werfen konnte, wenn er ihr irgendwelche Probleme bereitete. Selbst wenn nicht, beobachteten sie alles, weshalb zweifellos augenblicklich eine Verstärkung auftauchen würde. Außerdem war da noch etwas anderes, was einen starken Einfluss auf ihn ausübte. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, höflich zu sein und Erwachsenen zu gehorchen. Selbst in der momentanen Situation war die Angewohnheit schwer zu durchbrechen.
Gladys führte ihn an der Fensterreihe vorbei, von der Nicky gesprochen hatte. Als Luke hinausblickte, konnte er tatsächlich ein weiteres Gebäude sehen. Durch die Bäume hindurch war es kaum zu erkennen, aber es stand da, keine Frage. Der Hinterbau.
Bevor er den Aufenthaltsraum verließ, warf er einen Blick zurück, weil er auf eine beruhigende Geste hoffte, ein Winken zum Beispiel. Selbst ein Lächeln von Kalisha hätte ihm ausgereicht. Er sah jedoch kein Winken, und niemand lächelte. Alle sahen ihn mit demselben Ausdruck an wie auf dem Spielplatz, als er gefragt hatte, ob ihre Eltern noch am Leben seien. Das wussten sie bekanntlich nicht, jedenfalls nicht mit Gewissheit, aber sie wussten, wohin er jetzt geführt wurde. Was immer ihn erwartete, sie hatten es bereits durchgemacht.
»Meine Güte, was für ein wunderschöner Tag, was?«, sagte Gladys, während sie mit ihm durch den nüchternen Flur an seinem Zimmer vorüberging. Am Ende führte der Flur in einen anderen Gebäudetrakt – weitere Türen, weitere Zimmer–, aber sie bogen nach links in eine Aufzugnische ab.
Luke, der normalerweise ganz gut Small Talk machen konnte, schwieg. Er war sich ziemlich sicher, dass Nicky sich in der gleichen Situation ebenso verhalten würde.
»Wenn bloß die Stechmücken nicht wären… puh!« Sie wedelte ein paar unsichtbare Insekten weg und lachte. »Denk dran, immer anständig Mückenmittel aufzutragen, wenigstens bis zum Juli.«
»Wenn die Libellen ausschlüpfen.«
»Ja! Genau!« Sie stieß ein trällerndes Lachen aus.
»Wo gehen wir hin?«
»Das siehst du dann schon.« Sie klimperte mit den Augen, als wollte sie sagen: Verdirb dir nicht die Überraschung.
Die Aufzugtür ging auf. Zwei Männer in blauer Pflegeruniform stiegen aus. Der eine hieß JOE, der andere HADAD. Jeder hatte ein I-Pad in der Hand.
»Hi, Leute«, sagte Gladys fröhlich.
»Hallo, Süße«, sagte Hadad. »Wie läuft’s?«
»Super«, zwitscherte Gladys.
»Und wie steht’s mit dir, Luke?«, fragte Joe. »Findest du dich zurecht?«
Luke sagte nichts.
»Du strafst uns mit Schweigen, hm?« Hadad grinste. »Vorläufig ist das okay. Später vielleicht nicht mehr unbedingt. Weißt du, es ist so, Luke – wenn du nett zu uns bist, sind wir auch nett zu dir.«
»Nur wer mitspielt, kann gewinnen«, fügte Joe hinzu. »Goldene Worte. Sehen wir uns später, Gladys?«
»Klar doch. Du schuldest mir einen Drink.«
»Wenn du meinst…«
Die Männer gingen ihres Weges. Gladys begleitete Luke in den Aufzug, in dem es keinerlei Tasten mit Zahlen gab. Sie sagte »B«, zog eine Karte aus der Hosentasche und wedelte damit vor einem Sensor. Die Tür ging zu, und die Kabine fuhr nach unten, aber nur ein kurzes Stück.
»B«, säuselte eine sanfte Frauenstimme von oben her. »Das ist Ebene B.«
Gladys wedelte wieder mit ihrer Karte. Die Tür ging auf, und man sah einen breiten, von durchsichtigen Deckenpaneelen erleuchteten Flur. Im Hintergrund lief leise Musik von der Sorte, die Luke für sich als Supermarktmusik bezeichnete. Mehrere Leute gingen umher. Manche schoben Wägelchen mit Geräten darauf, eine Frau trug einen Drahtkorb, der vielleicht Blutproben enthielt. Die Türen waren mit Zahlen gekennzeichnet, denen jeweils der Buchstabe B vorangestellt war.
Eine große Operation, hatte Nicky gesagt. Eine richtige Anlage. Das stimmte offenbar, denn wenn es eine unterirdische Ebene mit der Bezeichnung B gab, musste es logischerweise auch eine Ebene C geben. Vielleicht sogar D und E. Eigentlich müsste es wirklich eine Regierungseinrichtung sein, dachte Luke. Aber wie könnte man eine so große Operation geheim halten? Was hier läuft, ist schließlich nicht nur illegal und verfassungswidrig, es werden sogar Kinder gekidnappt.
Als sie an einer offenen Tür vorüberkamen, blieb Luke stehen und blickte hinein. Es handelte sich offenbar um einen Pausenraum, denn er war mit Tischen und Warenautomaten ausgestattet (allerdings fehlte der Hinweis, man solle verantwortungsbewusst trinken). An einem Tisch saßen drei Leute, ein Mann und zwei Frauen. Sie trugen normale Kleidung, Jeans und Hemden, und tranken Kaffee. Eine der Frauen, sie hatte blondes Haar, kam ihm bekannt vor. Zuerst wusste er nicht, weshalb, dann fiel ihm eine Stimme ein, die sagte: Klar, alles, was du verlangst. Es war das Letzte, woran er sich aus der Zeit erinnerte, bevor er hier aufgewacht war.
»Du«, sagte er und zeigte auf sie. »Das warst du. «
Die Frau sagte nichts, und ihr Gesicht sagte auch nichts aus. Aber sie sah ihn an. Das tat sie immer noch, als Gladys die Tür zuzog.
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