»Ich bin in den Wassertank gekommen«, rief Iris in Erinnerung.
»Schön für dich«, sagte Nicky. »Wenn wir pos sind, lassen sie uns allerhand dämliche Hundetricks machen. Ich bin zufällig selbst TK-pos, aber George, die Labertasche da, ist in der Hinsicht wesentlich begabter als ich. Einmal war einer da, weiß nicht mehr, wie er heißt, der hat George sogar noch übertroffen.«
»Bobby Washington«, sagte Kalisha. »Ein kleiner Schwarzer, etwa neun. Der konnte ’nen Teller einfach so vom Tisch rutschen lassen. Wie lange ist der jetzt schon weg, Nicky? Zwei Wochen?«
»Etwas weniger«, sagte Nicky. »Wenn es zwei Wochen wären, wäre ich noch gar nicht da gewesen.«
»An einem Abend saß er am Esstisch, und am nächsten Tag war er im Hinterbau«, sagte Kalisha. »Simsalabim! Eben noch da, schon wieder weg. Die Nächste bin wohl ich. Hab den Eindruck, dass sie mit ihren ganzen Tests allmählich fertig sind.«
»Bei mir auch«, sagte Nicky säuerlich. »Wahrscheinlich sind sie froh, mich loszuwerden.«
»Das wahrscheinlich kannst du streichen«, sagte George.
»Diese Spritzen, die sie uns geben…«, sagte Iris. »Manche tun weh, andere nicht, manche machen was mit einem, manche nicht. Nach einer hab ich hohes Fieber gekriegt und brutales Kopfweh. Ich dachte schon, dass ich mich bei Sha mit Windpocken angesteckt hätte, aber nach einem Tag war es vorüber. Jedenfalls geben sie dir Spritzen, bis du die Blitze siehst und das Summen hörst.«
»Du bist noch gut weggekommen«, sagte Kalisha. »Ein paar andere Kids… Da war einer, der hieß Morty… an seinen Nachnamen kann ich mich nicht erinnern…«
»Der Nasenbohrer«, sagte Iris. »Hing immer mit Bobby Washington rum. Seinen Nachnamen weiß ich auch nicht mehr. Zwei Tage nachdem ich hier angekommen bin, ist er in den Hinterbau entschwunden.«
»Oder sonst wohin«, sagte Kalisha. »Er war nämlich nicht besonders lange hier, und nach einer von den Spritzen war er am ganzen Körper mit Flecken übersät. Das hat er mir beim Essen erzählt. Außerdem hat sein Herz wie irre geschlagen. Ich glaube, er ist total krank geworden.« Sie schwieg einen Moment. »Vielleicht ist er sogar gestorben.«
George starrte sie mit entsetzter Miene an. »Von mir aus kannst du gerne so zynisch sein, wie du willst, aber das glaubst du doch nicht wirklich, oder?«
»Ist ja nicht so, als ob ich’s glauben wollte «, sagte Kalisha.
»Klappe, ihr alle«, sagte Nicky. Er beugte sich über das Schachbrett und sah Luke in die Augen. »Ja, sie kidnappen uns. Weil wir besondere Kräfte haben. Wie sie uns finden? Keine Ahnung. Aber es muss eine große Operation sein, weil das hier groß angelegt ist. Es ist eine richtige Anlage, verdammt noch mal. Sie haben Ärzte, MTAs und Leute, die sich Pfleger schimpfen… Es ist wie ein kleines Krankenhaus, das man hier mitten in den Wald gesetzt hat.«
»Security haben sie auch«, sagte Kalisha.
»Stimmt. Der Chef von denen ist ein fettes Arschloch mit Glatze. Stackhouse heißt der.«
»Aber das ist doch verrückt«, sagte Luke. »Mitten in Amerika?«
»Wir sind hier nicht in Amerika, sondern im Königreich des Instituts. Wenn wir zum Mittagessen da reingehen, solltest du mal aus den Fenstern schauen, Ellis. Da wirst du massenhaft weitere Bäume sehen, aber wenn du genau hinschaust, siehst du noch ein Gebäude. Aus grünen Betonsteinen, genau wie das hier. Damit es zwischen den Bäumen nicht so auffällt, denke ich. Egal, das ist der Hinterbau. Wo wir hinkommen, wenn alle Tests und Spritzen erledigt sind.«
»Und was passiert dort?«
Die Antwort gab Kalisha. »Das wissen wir nicht.«
Luke lag es auf der Zunge zu fragen, ob Maureen Bescheid wusste, doch dann fiel ihm ein, was Kalisha ihm ins Ohr geflüstert hatte: Die belauschen uns.
»Wir wissen bloß, was sie uns sagen«, ergänzte Iris. »Sie sagen…«
»Sie sagen, dass alles wieder GUUUUUT wird!«
Das brüllte Nicky so laut und so plötzlich, dass Luke zusammenzuckte und beinahe von der Picknickbank gefallen wäre. Der schwarzhaarige Junge erhob sich, stellte sich in Positur und blickte zu der staubigen Linse einer Überwachungskamera hinauf. Dabei fiel Luke noch etwas ein, was Kalisha gesagt hatte: Wenn du Nicky kennenlernst, mach dir nichts draus, wenn er Randale macht. So lässt er eben Dampf ab.
»Die sind wie Missionare, die Jesus verkaufen. An einen Haufen Indianer, die so… so…«
»Naiv?«, schlug Luke vor.
»Genau! Das ist es!« Nicky starrte immer noch in die Kamera. »An einen Haufen Indianer, die so naiv sind, dass sie praktisch alles glauben! Die ihr Land für eine Handvoll Glasperlen und ein paar mit Flöhen gespickte Decken aufgeben, weil man ihnen weismacht, dass sie in den Himmel kommen, dort alle ihre toten Verwandten wiedersehen und für immer glücklich sind! Das sind wir, ein Haufen Indianer, die so naiv sind, dass sie alles glauben, was sich gut anhört. Was sich anhört, als gäb es ein verdammtes HAPPY END! «
Mit fliegenden Haaren wirbelte er zu den anderen herum. Seine Augen brannten, die Hände hatte er zur Faust geballt. Auf seinen Fingerknöcheln sah Luke verschorfte Wunden. Wahrscheinlich hatte Nicky nicht so erfolgreich ausgeteilt, wie er eingesteckt hatte – schließlich war er praktisch noch ein Kind–, aber offenbar hatte er es irgendjemand nach Kräften heimgezahlt.
»Meint ihr, als man Bobby Washington in den Hinterbau geschafft hat, hätte der irgendwelche Zweifel dran gehabt, dass es ihm dort blendend gehen würde? Oder Pete Littlejohn? Scheiße, die hatten doch gerade mal so viel Hirn wie ein Pfannkuchen.«
Er wandte sich wieder der verstaubten Überwachungskamera zu. Dass er kein anderes Objekt zur Verfügung hatte, um seinem Zorn Luft zu machen, ließ seinen Auftritt ein bisschen lächerlich wirken, aber Luke bewunderte ihn trotzdem. Nicky war nicht bereit, sich in seine Lage zu fügen.
»Hört gut zu, ihr Typen! Ihr könnt mich grün und blau prügeln, und ihr könnt mich in den Hinterbau schleppen, aber ich werde mich wehren, so gut ich kann! Nick Wilholm lässt sich keine Glasperlen und Decken andrehen! «
Schwer atmend, setzte er sich hin. Dann lächelte er, dass einem Grübchen, weiße Zähne und muntere Augen entgegenleuchteten. Der mürrische, finstere Ausdruck war wie weggeblasen. Luke fühlte sich zwar von Jungen nicht angezogen, aber als er dieses Lächeln sah, begriff er, weshalb Nicky von Kalisha und Iris wie der Leadsänger einer Boygroup angehimmelt wurde.
»Eigentlich sollte ich bei denen im Team sein, statt hier zu hocken wie in einem Hühnerstall. Ich könnte euch den Laden besser verkaufen als Sigsby und Hendricks und die ganzen anderen Typen. Ich strahle nämlich Überzeugung aus.«
»Auf jeden Fall«, sagte Luke. »Aber ich bin mir trotzdem nicht ganz sicher, worauf du rauswolltest.«
»Ja, irgendwie bist du auf den Holzweg geraten, Nicky«, sagte George.
Nicky verschränkte die Arme. »Also, Neuer, bevor ich dich im Schach nach Strich und Faden abziehe, fasse ich noch mal zusammen. Sie bringen uns hierher. Sie machen Tests an uns. Sie spritzen uns weiß der Teufel was und machen dann weitere Tests. Manche Kids kommen in den Wassertank, alle müssen durch diesen gruseligen Augentest, bei dem man dauernd meint, jeden Moment umzukippen. Wir haben Zimmer, die wie unsere Zimmer zu Hause aussehen, was wahrscheinlich ’ne Art Trost für unsere zarte Seele darstellen soll. Oder so.«
»Emotionale Akklimatisierung«, sagte Luke. »Das leuchtet durchaus ein.«
»Das Essen ist gut. Wir können sogar von einer Speisekarte auswählen, so überschaubar die auch ist. Die Zimmer sind nicht abgeschlossen; wenn du also nicht einschlafen kannst, kannst du dir in der Cafeteria nachts einen Snack besorgen. Da stehen Kekse, Nüsse, Äpfel und so Zeug. Oder du gehst in den Aufenthaltsraum. Die Automaten da funktionieren mit Wertmünzen, von denen ich allerdings keine einzige habe, weil die bloß brave kleine Mädchen und Jungen kriegen, und ich bin kein braver kleiner Junge. Wenn ich mal einen Pfadfinder in die Finger kriegen sollte, ramme ich ihn ungespitzt…«
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