»Aber warum? Weil du irgendwelche Mücken dazu bringen kannst, dich einen Moment in Ruhe zu lassen? Weil ich…« Er dachte daran, wie das Blech in der Pizzeria zu Boden gefallen war. »Weil ab und zu hinter mir die Tür von selbst zugeht, wenn ich in ein Zimmer gehe?«
»Na ja«, sagte George. »Wenn sie die Leute nach Schönheit auswählen würden, wären Iris und Sha bestimmt nicht hier.«
»Vollpfosten«, sagte Kalisha
George grinste. »Ein extrem niveauvoller Konter. Fast so gut wie ›Leck mich am Ärmel‹.«
»Manchmal kann ich es kaum erwarten, dass du in den Hinterbau kommst«, sagte Iris. »Gott wird mir dafür wahrscheinlich in den Arsch treten, aber…«
»Moment«, sagte Luke. »Moment. Fang bitte mal am Anfang an.«
»Das ist der Anfang, Kumpel«, sagte jemand hinter ihnen. »Leider ist es wahrscheinlich auch das Ende.«
Luke schätzte das Alter des frisch dazugekommenen Jungen auf sechzehn, stellte jedoch später fest, dass er zwei Jahre zu hoch gelegen hatte. Nicky Wilholm war groß und blauäugig; sein ungepflegter Haarschopf war rabenschwarz und schrie nach einer doppelten Dosis Shampoo. Er trug ein zerknittertes Hemd und ebenso zerknitterte Shorts, seine weißen Sportsocken hingen auf halbmast, und seine Sneakers waren schmutzig. Luke erinnerte sich daran, dass Maureen gesagt hatte, Nicky sei wie Pig Pen von den Peanuts.
Die anderen beäugten ihn mit respektvoller Vorsicht, und Luke begriff sofort, dass Kalisha, Iris und George zwar nicht glücklicher als er selbst darüber waren, sich an diesem Ort zu befinden, aber doch versuchten, positiv zu bleiben. Bis auf den Moment, wo Iris sich hatte gehen lassen, stellten sie die etwas alberne Absicht zur Schau, das Beste aus der Situation zu machen. Das ließ sich von dem Typen da nicht behaupten. Momentan wirkte Nicky zwar nicht wütend, aber es war klar, dass er es vor nicht allzu langer Zeit gewesen war. Seine geschwollene Unterlippe war an einer Stelle aufgeplatzt, außerdem war das ehemals blaue, jetzt noch blassblaue Auge so wenig zu übersehen wie der frische Bluterguss auf einer Wange.
Also jemand, der gern handgreiflich wurde. So welche hatte Luke schon erlebt, selbst an seiner Schule gab es ein paar, von denen er und Rolf Abstand hielten. Aber wenn dieser Ort eine Art Gefängnis war, wie Luke vermutete, würde es keine Möglichkeit geben, Abstand von Nicky Wilholm zu halten. Dass die anderen vor ihm keine Angst zu haben schienen, war immerhin ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich war Nicky wütend auf das, was sich hinter der neutralen Bezeichnung Institut verbarg, verhielt sich gegenüber den anderen Kindern jedoch einfach schroff. Kaltblütig. In dem Fall ließen die Spuren auf seinem Gesicht nichts Gutes vermuten, vor allem wenn er nicht von Natur aus gewalttätig war. Ob er wohl von einem Erwachsenen verprügelt worden war? Hätte ein Lehrer sich zu so etwas hinreißen lassen, hätte man ihn gefeuert, wahrscheinlich angezeigt und vielleicht festgenommen, nicht nur an Lukes Schule, sondern praktisch überall.
In Kansas sind wir auch nicht mehr, Toto, hatte Kalisha gesagt.
»Ich bin Luke Ellis.« Er streckte Nicky die Hand hin, ohne recht zu wissen, was er zu erwarten hatte.
Anstatt die Hand auch nur zu beachten, öffnete Nicky den grünen Geräteschrank. »Spielst du Schach, Ellis? Die drei anderen da haben keine blasse Ahnung davon. Donna Gibson konnte wenigstens einigermaßen mithalten, aber die ist vor drei Tagen in den Hinterbau gekommen.«
»Und wir werden sie nie wiedersehen«, sagte George trübselig.
»Ich spiele Schach, aber jetzt hab ich keine Lust dazu«, sagte Luke. »Erst will ich wissen, wo ich bin und was hier vor sich geht.«
Nick holte ein Schachbrett und den Kasten mit den Figuren aus dem Schrank. Während er schnell alles aufbaute, spähte er durch die Haare hindurch, die ihm in die Augen gefallen waren, anstatt sie zurückzustreichen. »Du bist im Institut. Irgendwo in der Wildnis von Maine. Hier gibt es keinen Ort, sondern nur Kartenkoordinaten. TR-110. Das hat Sha von ein paar Leuten aufgeschnappt. Donna ebenfalls, genau wie Pete Littlejohn. Das ist ein weiterer TP, der im Hinterbau verschwunden ist.«
»Kommt mir so vor, als wär Petey schon ewig weg, dabei war er noch letzte Woche hier«, sagte Kalisha wehmütig. »Erinnert ihr euch an seine ganzen Pickel? Und daran, wie ihm immer die Brille über die Nase gerutscht ist?«
Nicky achtete nicht auf sie. »Die Zoowärter versuchen erst gar nicht, irgendwas zu verschleiern oder zu leugnen. Wieso sollten sie auch, wenn sie die Kids mit TP tagaus, tagein in die Mangel nehmen? Und wegen dem, was sie geheim halten wollen, machen sie sich keine Sorgen, weil selbst Sha nicht richtig tief eindringen kann, und die ist ziemlich gut.«
»Bei den Zenerkarten schaffe ich meistens neunzig Prozent«, sagte Kalisha. Ohne zu prahlen, ganz sachlich. »Und ich kann dir den Vornamen deiner Großmutter sagen, wenn du ihn ganz vorne in deinen Kopf schiebst, aber tiefer komme ich nicht.«
Der Vorname meiner Großmutter ist Rebecca, dachte Luke.
»Rebecca«, sagte Kalisha, und als sie Lukes verblüffte Miene sah, bekam sie einen Kicheranfall, bei dem sie wie das Kind aussah, das sie vor kurzem noch gewesen war.
»Du kriegst die Weißen«, sagte Nicky. »Ich spiele immer Schwarz.«
»Nick ist unser Ehrenrevoluzzer«, sagte George.
»Den Beweis sieht man an seinem Gesicht«, sagte Kalisha. »Es bekommt ihm nicht gut, aber offenbar kann er nicht anders. Das Chaos in seinem Zimmer ist auch so eine kindische Rebellion und macht Maureen bloß mehr Arbeit.«
Nicky sah sie scharf an. »Wenn Maureen wirklich die Heilige wäre, für die du sie hältst, würde sie uns hier rausholen. Oder sich bei der nächsten Polizeistation melden und das Ganze auffliegen lassen.«
Kalisha schüttelte den Kopf. »So läuft das nicht. Wenn du hier arbeitest, gehörst du dazu. Egal ob du gut oder schlecht bist.«
»Beziehungsweise fies oder nett«, fügte George hinzu. Er blickte ernst drein.
»Außerdem hocken in der nächsten Polizeistation wahrscheinlich bloß ein Haufen Hillbillys«, sagte Iris. »Da du dich anscheinend zum Obererklärer ernannt hast, Nicky, wie wär’s, wenn du dem Neuen wirklich sagst, was Sache ist? Shit, weißt du denn nicht mehr, wie krass es ist, hier in ’nem Zimmer aufzuwachen, das wie deins zu Hause aussieht?«
Nicky lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Luke sah aus den Augenwinkeln, wie Kalisha ihn anhimmelte. Wenn die Nicky mal einen Kuss gab, tat sie das bestimmt nicht nur, um ihre Windpocken weiterzugeben.
»Okay, Ellis, dann erzähle ich dir jetzt mal, was wir wissen. Oder was wir zu wissen glauben. Es wird nicht lange dauern. Ihr zwei Ladys könnt gern was beitragen. George, du hältst die Klappe, wenn du ’nen Bullshit-Anfall kriegen solltest.«
»Danke für den Hinweis«, sagte George. »Da kannst du lange warten.«
»Kalisha ist am längsten hier«, sagte Nicky. »Wegen den Windpocken. Wie viele Kids hast du in der Zeit kennengelernt, Sha?«
Sie überlegte. »So um die fünfundzwanzig. Vielleicht auch ein paar mehr.«
Er nickte. »Die Kids – wir – kommen von überall her. Sha ist aus Ohio, Iris ist aus Texas, George ist aus Schwanzloch, Montana…«
»Ich bin aus Billings«, sagte George. »Einer absolut anständigen Stadt.«
»Als Erstes markieren sie uns, als ob wir Zugvögel oder irgendwelche verdammten Büffel wären.« Nicky strich seine Haare zurück und klappte sein rechtes Ohrläppchen nach vorn. Eine Scheibe aus glänzendem Metall, halb so groß wie eine kleine Münze, wurde sichtbar. »Sie untersuchen uns, sie machen Tests an uns, sie geben uns manchmal eine Spritze für Blitze, dann untersuchen sie uns wieder und machen weitere Tests. Wenn du ein Pink bist, kriegst du mehr Spritzen und wirst öfter getestet.«
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