»Durch den Wucher«, sagte Luke. »So nennt mein Dad es. Den gibt’s schon seit den alten Sumerern. Eigentlich ist es ein Verbrechen, und mein Dad sagt, die Kreditkartenfirmen sind im Grunde Verbrecher. Wenn man sich den Zinseszins anschaut, den sie verlangen, hat er vielleicht…«
»Was hat er? Recht?«
»Genau.« Luke wandte den Blick von den Kindern draußen ab – es musste sich um George und Iris handeln – und sah Kalisha an. »Das hat sie dir alles erzählt? Obwohl du noch ein Kind bist? Was interpersonelle Beziehungen angeht, bist du offenbar echt begabt.«
Kalisha blickte verblüfft drein, dann lachte sie laut los. Dabei stemmte sie die Hände in die Hüften und warf den Kopf zurück, wodurch sie nicht mehr wie ein Kind, sondern wie eine richtige Frau aussah. »Intrapersonelle Beziehungen! Du klopfst ja Sprüche, Lukey!«
»In ter, nicht in tra «, sagte er. »Außer man kommt mit einer ganzen Gruppe zusammen. Zur Schuldenberatung oder so.« Er machte eine Pause. »Das, äh, war ein Witz.« Und zwar ein ziemlich lahmer. Ein nerdiger Witz.
Sie musterte ihn abwägend, von oben bis unten und dann wieder bis oben, was erneut dieses nicht unangenehme Kribbeln hervorrief. »Sag mal, wie gescheit bist du eigentlich?«
Leicht verlegen zuckte er die Achseln. Normalerweise gab er damit nicht an – es war die schlechteste Methode auf der Welt, Freunde zu gewinnen und sich beliebt zu machen–, aber er war durcheinander, verwirrt, besorgt, und er hatte (was er genauso gut zugeben konnte) eine Scheißangst. Es fiel ihm zunehmend schwerer, das, was geschehen war, nicht mit dem Begriff Kindesentführung zu bezeichnen. Schließlich war er ein Kind, und wenn Kalisha die Wahrheit sagte, war er Tausende Meilen von zu Hause aufgewacht. Hätten seine Eltern ihn abtransportieren lassen, ohne zu protestieren oder sich handgreiflich zu wehren? Unwahrscheinlich. Egal was man mit ihm gemacht hatte, er hoffte, dass die beiden dabei nicht aufgewacht waren.
»Ich tippe auf verdammt gescheit. Bist du TP oder TK? Ich glaube, eher TK.«
»Und ich hab keine Ahnung, wovon du da redest.«
Oder vielleicht doch. Er dachte daran, wie manchmal die Teller in den Schränken klapperten, wie die Tür seines Zimmers von allein auf- oder zuging und wie das Blech in der Pizzeria vom Tisch gerutscht war. Und daran, wie bei der Zugangsprüfung der Mülleimer von selbst über den Boden gewandert war.
»TP ist Telepathie«, sagte Kalisha. »Und TK ist…«
»Telekinese.«
Grinsend richtete sie den Zeigefinger auf ihn. »Du bist echt ein gescheiter Junge. Telekinese, genau. Du bist entweder das eine oder das andere, beides ist angeblich niemand – jedenfalls behaupten das die MTAs. Ich bin TP.« Das sagte sie mit gewissem Stolz.
»Das heißt, du kannst Gedanken lesen«, sagte Luke. »Klar. Jeden Tag einmal. Und am Sonntag zweimal.«
»Was meinst du, woher ich über Maureen Bescheid weiß? Die würde niemand hier von ihren Problemen erzählen, so jemand ist sie einfach nicht. Allerdings weiß ich keine Einzelheiten, bloß ihre allgemeine Situation.« Sie überlegte. »Außerdem ist da noch was mit einem Kind. Was komisch ist. Ich hab sie einmal gefragt, ob sie Kinder hat, und da hat sie nein gesagt.« Kalisha zuckte die Achseln. »Jedenfalls hab ich das immer schon gekonnt – ab und zu, nicht die ganze Zeit–, aber es ist nicht so, dass ich eine Superheldin wäre. Sonst würde ich hier nämlich schleunigst abhauen.«
»Im Ernst?«
»Ja, und hier kommt dein erster Test. Der erste von vielen. Ich denke an eine Zahl zwischen eins und fünfzig. Was ist das für eine Zahl?«
»Keine Ahnung.«
»Ehrlich? Schwindelst du nicht?«
»Überhaupt nicht.« Er ging zu der Tür an der anderen Seite des Raums. Draußen zielte der Junge auf einen Basketballkorb, während das Mädchen auf einem Trampolin hüpfte, ohne besondere Kunststücke zu machen; sie ließ sich nur auf den Hintern fallen und machte gelegentlich eine Drehung. Spaß schien ihnen das, was sie da taten, nicht zu machen; sie wirkten, als würden sie nur die Zeit totschlagen. »Sind das da draußen George und Iris?«
»Jep.« Kalisha gesellte sich zu ihm. »George Iles und Iris Stanhope. Die sind beide TK. TPs sind dünn gesäter. He, kluger Junge, ist das korrekt oder muss man dünner gesät sagen?«
»Man versteht beides, aber ich würde dünner gesät sagen. Dünn gesäter hört sich an, als ob man was Falsches gegessen hätte.«
Darüber dachte sie einige Sekunden nach, dann lachte sie und richtete wieder den Zeigefinger auf ihn. »Nicht schlecht!«
»Können wir rausgehen?«
»Klar. Die Tür vom Spielplatz ist nie abgeschlossen. Allerdings wirst du bestimmt nicht lange draußen bleiben, hier in der Pampa gibt es massenhaft Moskitos. In dem Medizinschränkchen in deinem Bad müsste ein Fläschchen Deet sein. Das solltest du vorher immer nehmen, und schmier dich richtig damit ein! Maureen sagt, sobald die Libellen schlüpfen, wird es besser, aber bisher hab ich noch keine von denen gesehen.«
»Sind die nett?«
»George und Iris? Klar, ich glaube schon. Ist allerdings nicht so, dass wir beste Freunde wären, ich kenne George ja erst ’ne Woche. Iris ist… hm… vor zehn Tagen angekommen, glaube ich. Um den Dreh jedenfalls. Nach mir ist Nick am längsten hier. Nick Wilholm. Freu dich lieber nicht auf irgendwelche tieferen Beziehungen hier im Vorderbau, kluger Junge. Wie schon gesagt, ein ständiges Kommen und Gehen. Nur dass absolut keiner von Michelangelo daherschwätzt.«
»Wie lange bist du denn schon hier, Kalisha?«
»Fast einen Monat. Damit bin ich ein alter Hase.«
»Sagst du mir dann, was hier eigentlich läuft?« Er deutete mit dem Kinn auf die Kids draußen. »Oder sagen die es mir?«
»Wir werden dir sagen, was wir wissen und was die Pfleger und MTAs uns erzählen, aber ich hab den Eindruck, dass das meiste davon gelogen ist. George meint das auch. Iris wiederum…« Kalisha lachte. »Die ist wie Agent Mulder in Akte X. Sie will es gerne glauben.«
»Was will sie glauben?«
Bei dem Blick, den sie ihm zuwarf – zugleich weise und traurig – sah sie wieder eher wie eine Erwachsene als wie ein Kind aus. »Dass das hier nur ein kleiner Umweg auf der großen Straße des Lebens ist und dass am Ende alles gut wird, wie in Scooby-Doo. «
»Wo sind denn deine Eltern? Und wie bist du hierhergekommen?«
Das erwachsene Aussehen verschwand. »Da will ich jetzt nicht drüber reden.«
»Okay.« Vielleicht wollte er das auch nicht. Zumindest noch nicht.
»Und wenn du Nicky kennenlernst, mach dir nichts draus, wenn er ordentlich Randale macht. So lässt er eben Dampf ab, und manche von seinen Sprüchen sind…« Sie dachte nach. »Unterhaltsam.«
»Aha. Tust du mir einen Gefallen?«
»Klar, wenn ich kann.«
»Hör auf, kluger Junge zu mir zu sagen. Mein Name ist Luke. Nimm den, okay?«
»Mach ich.«
Er griff nach dem Türknauf, aber sie packte ihn am Handgelenk.
»Noch etwas, bevor wir rausgehen. Dreh dich um, Luke.«
Das tat er. Sie war zwei, drei Zentimeter größer als er. Ihm war nicht klar, dass sie ihn küssen würde, bis sie es tat, voll auf die Lippen. Sie steckte ihm sogar ein oder zwei Sekunden lang die Zunge in den Mund, was nicht nur ein Kribbeln hervorrief, sondern einen regelrechten Elektroschock, wie wenn er den Finger in eine Steckdose gesteckt hätte. Sein erster echter Kuss, und ein wilderschmusiger noch dazu. Rolf, dachte er (soweit er direkt danach überhaupt denken konnte), wäre total neidisch gewesen.
Mit zufriedener Miene löste Kalisha sich von ihm. »Das ist jetzt keine wahre Liebe oder so was, nicht dass du auf irgendwelche Ideen kommst. Ich weiß nicht mal, ob ich dir damit einen Gefallen tue, aber vielleicht schon. In meiner ersten Woche hier war ich nämlich in Quarantäne. Keine Spritze für Blitze.«
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