»Echte Zigaretten? Du meinst doch nicht etwa für Kinder?«
»Kinder sind hier die einzigen Insassen. Momentan sind hier im Vorderbau allerdings nicht so viele. Maureen meint, es kommen wahrscheinlich wieder welche. Ich weiß nicht, wo sie ihre Informationen herhat, aber normalerweise stimmen die.«
»Zigaretten für Kinder? Was ist das hier? Die Vergnügungsinsel?« Nicht dass er gerade besonders vergnügt gewesen wäre.
Darüber musste sie lachen. »Wie in Pinocchio! Nicht schlecht!« Sie hob die Hand. Luke klatschte sie ab und fühlte sich daraufhin ein bisschen besser. Schwer zu sagen, weshalb.
»Wie heißt du eigentlich? Ich kann dich schließlich nicht bloß weißer Junge nennen. Das wäre ja ’ne Art Rassendiskriminierung.«
»Luke Ellis. Und wer bist du?«
»Kalisha Benson.« Sie hob den Zeigefinger. »Jetzt pass gut auf, Luke. Du kannst Kalisha oder einfach Sha zu mir sagen. Aber sag bloß nicht Kumpel zu mir.«
»Wieso nicht?« Er versuchte immer noch, sich zurechtzufinden, was ihm jedoch nicht gelang. Nicht mal annähernd. Er steckte sich die andere Hälfte der Zigarette in den Mund, die mit der nachgemachten Glut am Ende.
»Weil das Hendricks und die anderen Penner sagen, wenn sie dir eine Spritze geben oder ihre Tests machen. ›Ich stecke dir jetzt eine Nadel in den Arm, was wehtun wird, aber sei einfach mal ein guter Kumpel. Ich mach bei dir jetzt einen Rachenabstrich, bei dem du sicher wie verfickt würgen musst, aber sei ein guter Kumpel. Wir tauchen dich jetzt in den Wassertank, aber halt dabei einfach den Atem an und sei ein guter Kumpel.‹ Deshalb darfst du nicht Kumpel zu mir sagen.«
Der Sache mit den Tests schenkte Luke kaum Aufmerksamkeit, darüber würde er später nachdenken. Er dachte über das Wort verfickt nach. Von Jungen hatte er das oft gehört (auch er und Rolf verwendeten es, wenn sie zusammen waren), und er hatte es von der hübschen Rothaarigen gehört, die wahrscheinlich ihre Zugangsprüfung verbockt hatte, aber noch nie von einem Mädchen seines Alters. Das bedeutete wohl, dass er bisher ein behütetes Leben geführt hatte.
Sie legte ihm die Hand aufs Knie, was bei ihm ein leichtes Kribbeln hervorrief, und sah ihn ernsthaft an. »Aber ich würde dir raten, trotzdem ein guter Kumpel zu sein, egal wie beschissen es läuft und egal was sie dir in den Hals oder den Hintern stecken. Über den Wassertank weiß ich nicht richtig Bescheid, das hat man mit mir noch nicht gemacht, ich hab bloß davon gehört, aber solange sie Tests mit dir machen, bleibst du im Vorderbau, das ist mal sicher. Was im Hinterbau läuft, weiß ich nicht, und ich will es auch nicht wissen. Ich weiß bloß, dass es da wie im Bermuda-Dreieck ist – man kommt zwar rein, aber nicht wieder raus. Jedenfalls kommt man nicht hierher zurück.«
Er blickte in die Richtung, aus der er gekommen war. An der Wand hingen allerhand aufmunternde Poster, außerdem sah man allerhand Türen, etwa acht auf jeder Seite. »Wie viele Kids sind in den Zimmern da?«
»Fünf, du und ich eingerechnet«, sagte sie. »Ganz voll ist es hier im Vorderbau nie, aber momentan ist es wie in ’ner Geisterstadt. Die Kids kommen und gehen.«
»Und schwätzen so daher von Michelangelo«, murmelte Luke.
»Hä?«
»Nichts. Was…«
Einer der Türflügel am näheren Ende des Flurs ging auf, und eine Frau in einem braunen Kleid tauchte auf. Sie hatte den beiden den Rücken zugewandt und hielt die Tür mit ihrem Hintern auf, während sie sich mit irgendetwas abmühte. Kalisha sprang augenblicklich auf. »Moment, Maureen, Moment, wart mal, wir helfen dir schon!«
Da Kalisha wir anstatt ich gesagt hatte, stand Luke ebenfalls auf und ging hinter ihr her. Aus der Nähe sah er, dass es sich bei dem braunen Kleid um eine Art Uniform handelte, wie von einem Zimmermädchen in einem mondänen Hotel – na ja, eher in einem mittelmäßig mondänen Hotel, da das Ding nicht mit Rüschen oder Ähnlichem verziert war. Die Frau versuchte, einen Wäschewagen über die Metallschwelle zwischen dem Flur und dem großen Raum jenseits davon zu ziehen – offenbar einem Aufenthaltsraum. Er enthielt Tische, Stühle und Sessel, außerdem einen Fernseher, der fast so groß wie eine Kinoleinwand war, und durch die Fenster strömte helles Sonnenlicht herein. Kalisha öffnete den anderen Türflügel, um Platz zu schaffen. Luke fasste den Wäschewagen (auf der Seite stand DANDUX) und half der Frau, ihn in den Flur des Wohnheims zu ziehen, in dem sie sich offenbar befanden. Im Wagen lagen Bettwäsche und Handtücher.
»Vielen Dank, mein Junge«, sagte die Frau. Sie war ziemlich alt, hatte viel Grau in den Haaren und sah müde aus. Auf dem Namensschildchen über ihrer schlaffen linken Brust stand MAUREEN. Sie musterte ihn. »Du bist neu. Luke, nicht wahr?«
»Luke Ellis. Woher wissen Sie das?«
»Steht auf meinem Tagesplan.« Sie zog ein gefaltetes Blatt Papier halb aus der Tasche ihres Rocks und schob es wieder hinein.
Luke streckte ihr die Hand hin, wie man es ihm beigebracht hatte. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Maureen begrüßte ihn. Sie war anscheinend ganz nett, also freute er sich wohl tatsächlich, sie kennenzulernen. An diesem Ort zu sein freute ihn jedoch gar nicht; er hatte Angst und machte sich Sorgen um sich selbst und um seine Eltern. Bestimmt vermissten die ihn inzwischen. Sie würden zwar nur ungern glauben, dass er weggelaufen war, aber welchen anderen Schluss konnten sie ziehen, wenn sie sein Zimmer leer vorfanden? Bald würde die Polizei nach ihm suchen, wenn sie das nicht bereits tat. Wenn Kalisha recht hatte, würde die Suche allerdings weit weg von hier stattfinden.
Die Handfläche von Maureen war warm und trocken. »Ich bin Maureen Alvorson. Ich kümmere mich um den Haushalt und alles andere, was gerade anfällt. Zum Beispiel werde ich dafür sorgen, dass du immer ein sauberes Zimmer hast.«
»Mach ihr bloß keine Extraarbeit«, sagte Kalisha und warf ihm einen strengen Blick zu.
Maureen lächelte. »Du bist ein echter Schatz, Kalisha, aber der da sieht nicht so aus, als tät er so ein Durcheinander anrichten wie dieser Nicky. Der ist wie Pig Pen von den Peanuts. Ist er jetzt eigentlich in seinem Zimmer? George und Iris sind draußen auf dem Spielplatz, aber da hab ich ihn nicht gesehen.«
»Sie kennen Nicky doch«, sagte Kalisha. »Wenn der vor ein Uhr nachmittags aufsteht, hält er das für früh.«
»Dann mache ich jetzt bloß die anderen Zimmer sauber, aber um eins wollen die Docs ihn haben. Wenn er dann noch nicht auf ist, wird man ihm auf die Sprünge helfen. Schön, dich kennenzulernen, Luke.« Damit ging sie ihres Weges, wobei sie den Wäschewagen vor sich herschob, anstatt ihn zu ziehen.
»Komm«, sagte Kalisha und nahm Luke bei der Hand. Sosehr er sich auch Sorgen um seine Eltern machte, spürte er wieder dieses Kribbeln.
Sie zog ihn in den Aufenthaltsraum. Den hätte er gern erkundet, vor allem die Warenautomaten (echte Zigaretten, war das wirklich möglich?), doch sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, baute Kalisha sich vor ihm auf. Sie blickte ernst, ja beinahe grimmig drein.
»Ich weiß zwar nicht, wie lange du hier sein wirst – oder wie lange ich noch hier sein werde–, aber solange du’s bist, sei cool zu Maureen, okay? Hier arbeiten ein paar echt gemeine Scheißkerle, aber sie gehört nicht dazu. Sie ist nett. Und sie hat Probleme.«
»Was für welche?« Das fragte er vor allem aus Höflichkeit. Er blickte aus dem Fenster auf das, was der Spielplatz sein musste. Dort sah er zwei Kids, einen Jungen und ein Mädchen, vielleicht so alt wie er, vielleicht auch ein bisschen älter.
»Vor allem meint sie, dass sie krank ist, aber sie will nicht zum Arzt gehen, weil sie es sich nicht leisten kann, krank zu sein. Sie verdient bloß vierzigtausend Dollar im Jahr und hat in etwa doppelt so viel Schulden. Vielleicht sogar mehr. Die hat ihr Mann angehäuft, bevor er abgehauen ist. Und sie werden immer höher, weißt du? Durch die Zinsen.«
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