»Jetzt geht’s um die Wurst, Leute!«, rief er, während er sich die Handschuhe überzog. »Ruby Red tritt in Aktion!«
»Hör auf mit dem pubertären Quatsch«, sagte Michelle. Sie klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr, um ebenfalls Handschuhe anzuziehen. »Symonds, bist du da?«, sprach sie hinein.
»Bin ich«, sagte Symonds.
»Hier spricht Ruby Red. Wir sind jetzt vor Ort. System deaktivieren.«
Sie wartete auf die Bestätigung durch Jerry Symonds. Im Haus der Familie Ellis, wo Luke und seine Eltern schlafend in ihren Betten lagen, erloschen die Bedienfelder der Alarmanlage im Flur und in der Küche. Sobald Michelle grünes Licht bekommen hatte, hob sie den Daumen. »Okay. Alles klar.«
Robin schlang sich den Einsatzbeutel, der wie eine mittelgroße Damenhandtasche aussah, über die Schulter. Als sie ausstiegen, ging im Innern des SUVs, dessen Nummernschilder ihn als Fahrzeug der Minnesota State Patrol auswiesen, kein Licht an. Im Gänsemarsch gingen sie am Nachbarhaus entlang (wo Rolf ebenfalls schlafend im Bett lag und vielleicht gerade davon träumte, wild zu schmusen) und betraten das Haus von Lukes Eltern durch die Tür zur Küche. Robin ging voran, weil sie den Schlüssel hatte.
Am Herd blieben sie stehen. Aus dem Einsatzbeutel zog Robin zwei kompakte Schalldämpfer und drei leichte Spezialbrillen mit elastischen Bändern. Die Brillen verliehen den Gesichtern der drei einen insektenhaften Touch, sorgten jedoch dafür, dass die dunkle Küche plötzlich hell wurde. Denny und Robin schraubten die Schalldämpfer auf, dann ging Michelle voran ins Wohnzimmer, von da aus in den Hausflur und zur Treppe.
Oben angelangt, schlichen sie behutsam, aber mit einer gesunden Portion Selbstvertrauen durch den Flur. Ein dicker Läufer dämpfte ihre Schritte. Vor der ersten geschlossenen Tür blieben Denny und Robin stehen, Michelle ging zur zweiten weiter. Sie warf einen Blick auf ihre Gefährten und klemmte sich die Sprühdose unter den Arm, damit sie beide Hände mit gespreizten Fingern heben konnte: Lasst mir zehn Sekunden Zeit. Robin nickte und hob den Daumen.
Als Michelle Lukes Zimmer betrat, quietschte die Tür leise in den Angeln. Die Gestalt im Bett, von der nur der Haarschopf zu sehen war, regte sich kurz und beruhigte sich wieder. Um zwei Uhr morgens hätte der Junge eigentlich im tiefsten Tiefschlaf liegen sollen, aber das war eindeutig nicht der Fall. Vielleicht schliefen geniale Kinder anders als normale, wer wusste das schon? Michelle Robertson bestimmt nicht. An der Wand hingen zwei Poster, die beide durch die Brille so gut sichtbar waren wie bei Tageslicht. Auf einem sah man einen Skateboarder im Flug, mit gebeugten Knien, ausgestreckten Armen und nach oben abgewinkelten Händen. Das andere stellte die Ramones dar, eine Punkband, deren Musik Michelle sich damals in ihrer Schulzeit ganz gern angehört hatte. Wahrscheinlich waren die Mitglieder inzwischen alle tot und zum großen Rockaway Beach im Himmel oben entschwunden.
Während sie durch den Raum ging, zählte sie im Kopf: vierundzwanzig… fünfundzwanzig…
Bei sechsundzwanzig stieß sie mit der Hüfte an den Schreibtisch des Jungen. Auf dem stand irgendein Pokal, der prompt umfiel. Obwohl das entstehende Geräusch nicht besonders laut war, drehte der Junge sich auf den Rücken und öffnete die Augen. »Mama?«
»Klar«, sagte Michelle. »Alles, was du verlangst.«
In den Augen des Jungen sah sie einen Anflug von Angst. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Michelle hielt den Atem an und drückte auf die Sprühdose, gerade mal fünf Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Er wurde sofort bewusstlos. Das war immer so, und wenn die Kids sechs bis acht Stunden später wieder aufwachten, litten sie nie unter irgendwelchen Nachwirkungen. Besser leben mit Chemie, dachte Michelle und zählte weiter: siebenundzwanzig… achtundzwanzig… neunundzwanzig…
Bei dreißig betraten Denny und Robin das Schlafzimmer von Herb und Eileen Ellis. Das Erste, was sie sahen, stellte ein Problem dar: Die Frau lag nicht im Bett. Die Tür zum Bad stand offen; ein Trapez aus Licht fiel auf den Boden. Es war zu hell für die Brillen, weshalb sie die abnahmen und einfach fallen ließen. Hier war der Boden aus poliertem Hartholz, und das doppelte Klacken war in dem stillen Zimmer deutlich hörbar.
»Herb?«, hörte man eine leise Stimme im Badezimmer. »Hast du etwa das Wasserglas umgestoßen?«
Robin trat zum Bett, griff nach hinten und zog die Glock aus ihrem Hosenbund, während Denny zur Badezimmertür ging, ohne auch nur den Versuch zu machen, seine Schritte zu dämpfen. Dafür war es zu spät. Er stellte sich neben die Tür und hob mit angewinkeltem Ellbogen die Waffe, sodass die Mündung nach oben zeigte.
Das Kissen auf der leeren Seite des Betts war noch vom Kopf der Frau, die da gelegen hatte, eingedellt. Robin zog es dem Mann aufs Gesicht und feuerte hinein. Die Glock gab lediglich ein leises Husten von sich. Aus den Öffnungen am Lauf sprühte ein bisschen brauner Dreck aufs Kissen.
Mit besorgter Miene kam Eileen aus dem Bad. »Herb? Was ist denn…«
Sie sah Denny. Er packte sie am Hals, legte ihr die Pistolenmündung an die Schläfe und drückte ab. Wieder hörte man ein leises Husten. Eileen sank zu Boden.
Inzwischen strampelten die Beine von Herb Ellis wild herum, sodass die Decke, unter der er und seine verstorbene Frau geschlafen hatten, sich wellte und aufblähte. Robin feuerte zwei weitere Schüsse in das Kissen. Beim ersten hörte man ein Bellen anstatt ein Husten, der zweite war noch lauter.
Denny zog das Kissen weg. »Sag mal, hast du dir vielleicht zu oft den Paten angeschaut? Du lieber Himmel, Robin, der Kopf ist ja halb weggerissen. Was soll der Bestatter denn mit so was anfangen?«
»Ich hab’s erledigt, das ist alles, worauf es ankommt.« In Wahrheit sah sie nicht gern hin, wenn sie jemand erschoss und das Leben aus ihm wich. Und sich nachher die entstandene Schweinerei anzusehen, ertrug sie fast gar nicht.
»Du musst dich zusammenreißen, Kleine. Der dritte Schuss war ziemlich laut. Komm jetzt!«
Sie hoben ihre Brillen auf und gingen zum Zimmer des Jungen. Dort nahm Denny Luke auf die Arme – kein Problem, der Kleine wog bestimmt kaum mehr als vierzig Kilo – und hob das Kinn, um anzudeuten, dass die Frauen vorgehen sollten. Die drei verließen das Haus auf demselben Wege, wie sie hereingekommen waren, also durch die Küche. Im Nachbarhaus brannte kein Licht (selbst der dritte Schuss war nicht so richtig laut gewesen), und man hörte nichts als die Grillen. Nur in der Ferne, vielleicht sogar drüben in St. Paul, schrillte eine Sirene.
Michelle ging als Erste zwischen den beiden Häusern hindurch, warf einen Blick auf die Straße und winkte dann die anderen herbei. Jetzt kam die einzige Phase eines solchen Unternehmens, die Denny Williams hasste. Wenn jemand, der unter Schlaflosigkeit litt, aus dem Fenster blickte und um zwei Uhr morgens drei Leute im Garten seiner Nachbarn sah, würde er Verdacht schöpfen. Und wenn einer von diesen drei Leuten etwas auf den Armen trug, was wie ein menschlicher Körper aussah, würde das erst recht verdächtig wirken.
Aber am Wildersmoot Drive – benannt nach einer längst verstorbenen Lokalgröße – schlief alles tief und fest. Robin öffnete die rechte hintere Seitentür des SUVs, stieg ein und streckte die Arme aus. Denny reichte ihr den Jungen, den sie sich auf den Schoß zog. Sein Kopf baumelte locker an ihre Schulter. Sie tastete nach dem Sitzgurt.
»Igitt, der sabbert ja«, sagte sie.
»Tja, wenn man bewusstlos ist, tut man das eben«, sagte Michelle und schloss die Hintertür. Dann setzte sie sich auf den Beifahrersitz, Denny hinters Lenkrad. Während der Wagen langsam losrollte, verstaute Michelle die Waffen und die Sprühdose. Kurz vor der ersten Kreuzung schaltete Denny die Scheinwerfer ein.
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