»Ich schicke doch einen zwölfjährigen Jungen nicht irgendwohin weit weg, wo er mit Studenten zusammenwohnt, die alt genug sind, Alkohol zu trinken und in irgendwelche Clubs zu gehen«, sagte Eileen. »Wenn wir Verwandte hätten, bei denen er wohnen könnte, wäre es vielleicht was anderes, aber…«
Greer nickte zustimmend. »Ich verstehe, bin ganz Ihrer Meinung, und Luke weiß durchaus, dass er noch nicht bereit ist, allein zu leben, selbst in einem betreuten Umfeld. Das ist ihm völlig klar. Dennoch ist er zunehmend frustriert und unzufrieden mit seiner aktuellen Situation, weil er begierig ist, zu lernen. Er ist gewissermaßen ausgehungert. Ich weiß zwar nicht, was für eine fabelhafte Apparatur da in seinem Kopf vor sich hin werkelt – das weiß niemand von uns; wahrscheinlich ist der alte Flint dem mit seinem Spruch von Jesus und den Schriftgelehrten am nächsten gekommen–, aber wenn ich versuche, mir das bildlich vorzustellen, kommt mir eine riesige, glänzende Maschine in den Sinn, die mit lediglich zwei Prozent ihrer Kapazität läuft. Allerhöchstens mit fünf Prozent. Und weil es sich um eine menschliche Maschine handelt, fühlt Luke sich eben… hungrig.«
»Frustriert und unzufrieden?«, sagte Herb. »Hm. Das sehen wir eigentlich nicht an ihm.«
Ich schon, dachte Eileen. Nicht die ganze Zeit, aber manchmal. Ja. In den Momenten, wenn die Teller klappern oder die Türen von selbst zufallen.
Sie stellte sich die riesige, glänzende Maschine vor, die Greer beschrieben hatte, so groß, dass sie drei oder vier Fabrikhallen füllte. Und was tat sie genau? Nicht mehr, als Papierbecher herzustellen oder Aluminiumtabletts für Fast Food auszustanzen. Da waren sie ihm mehr schuldig, aber musste es ausgerechnet so etwas sein?
»Was ist mit der University of Minnesota?«, fragte sie. »Oder mit der Concordia University in St. Paul? Wenn er dort studieren würde, könnte er zu Hause wohnen.«
Greer seufzte. »Dann könnten Sie genauso gut überlegen, ihn hier abzumelden und in eine gewöhnliche Highschool zu stecken. Wir sprechen über einen Jungen, für den die IQ-Skala keinerlei Aussagekraft hat. Er weiß, wo er hinwill. Er weiß, was er braucht.«
»Aber ich weiß nicht, was wir da tun können«, sagte Eileen. »Selbst wenn er dort ein Stipendium bekommt, leben und arbeiten wir beide hier. Und wir sind alles andere als reich.«
»Nun gut, dann lassen Sie uns darüber reden«, sagte Greer.
Als Herb und Eileen am Nachmittag desselben Tages wieder an der Schule vorfuhren, stand Luke mit vier anderen Kids, zwei Jungen und zwei Mädchen, an der Abholspur. Die fünf unterhielten sich aufgeregt und lachten. Eileen fand, dass sie wie ganz gewöhnliche Kinder aussahen. Die schon leicht pubertierenden Mädchen trugen Rock und Leggings, Luke und sein Freund Rolf Baggy Pants aus Cord – entsprechend dem diesjährigen Modetrend für junge Männer – und Tanktops. Auf dem von Rolf stand BIER IST WAS FÜR ANFÄNGER. Er hatte die gepolsterte Tasche mit seinem Cello dabei und schien damit einen Pole Dance zu veranstalten, während er sich über irgendetwas ausließ. Das konnte genauso der schulische Frühlingsball sein wie der Satz des Pythagoras.
Als Luke seine Eltern sah, nahm er sich gerade genug Zeit, Rolf abzuklatschen, dann griff er sich seinen Rucksack und sprang auf den Rücksitz von Eileens 4Runner. »Beide Eltern!«, sagte er. »Ausgezeichnet. Welchem Ereignis verdanke ich diese außerordentliche Ehre?«
»Willst du wirklich in Boston aufs College gehen?«, fragte Herb.
Anstatt aus der Fassung zu geraten, lachte Luke und stieß beide Fäuste in die Luft. »Und ob! Darf ich?«
Als würde er fragen, ob er am Freitagabend bei Rolf übernachten darf, dachte Eileen staunend. Dann fiel ihr ein, wie Greer die Fähigkeiten ihres Sohnes beschrieben hatte. Er hatte sie als global bezeichnet, was der perfekte Ausdruck war. Luke war ein Genie, das irgendwie nicht von seiner übergroßen Intelligenz deformiert worden war; er hatte absolut keine Bedenken, auf sein Skateboard zu steigen und mit seinem extrem außergewöhnlichen Gehirn einen steilen Gehsteig hinunterzurasen.
»Gehen wir doch irgendwo was essen, auch wenn es dafür noch recht früh ist, dann können wir darüber reden«, sagte sie.
»Auf zu Rocket Pizza!«, rief Luke. »Wie wär’s damit? Natürlich nur, wenn du dein Omeprazol eingenommen hast, Dad. Hast du?«
»Oh, allerdings, gleich nach dem Gespräch heute in der Schule. Seither bin ich damit gut versorgt.«
Sie bestellten sich eine große Peperonipizza, die Luke zur Hälfte ganz allein vernichtete. Dazu goss er sich aus der Glaskanne drei Gläser Cola ein, weshalb seine Eltern wieder einmal nicht nur über seine mentalen Fähigkeiten staunten, sondern auch über die seines Verdauungstrakts und seiner Blase. Luke erklärte, er habe zuerst nicht mit ihnen, sondern mit Mr. Greer gesprochen. »Ich wollte vermeiden, dass ihr ausflippt. Im Grunde war es ein erstes Sondierungsgespräch.«
»Du hast sozusagen einen Versuchsballon gestartet«, sagte Herb.
»Genau. Ich habe einen Testlauf durchgeführt. Habe die Probe aufs Exempel gemacht. Habe die Idee auf den Prüfstand gestellt, um…«
»Stopp. Mr. Greer hat erklärt, wie wir es anstellen könnten, dich zu begleiten.«
»Das müsst ihr auch«, sagte Luke ernsthaft. »Ich bin zu jung, ohne meine ebenso geschätzten wie verehrten Altvorderen zu leben. Außerdem…« Er blickte sie über die Überreste der Pizza hinweg an. »… würde das nicht gut gehen. Ich würde euch zu sehr vermissen.«
Eileen befahl ihren Augen, sich nicht mit Tränen zu füllen, doch das taten sie natürlich trotzdem. Herb reichte ihr eine Papierserviette. »Mr. Greer hat…äh«, sagte sie. »Einen Plan entworfen, könnte man wohl sagen… laut dem wir möglicherweise… Na ja…«
»Liebe Eltern, wer will das letzte Stück?«, sagte Luke.
»Greif nur zu«, sagte Herb. »Vielleicht platzt du trotzdem nicht, bevor du die Chance hast, diesen irren College-Plan durchzuziehen.«
»College zu dritt«, sagte Luke und lachte. »Er hat euch von den reichen Ehemaligen erzählt, stimmt’s?«
Eileen legte die Papierserviette weg. »Meine Güte, Lukey, du hast mit deinem Beratungslehrer über die finanziellen Möglichkeiten deiner Eltern gesprochen? Wer sind eigentlich die Erwachsenen hier? Allmählich ist mir das nicht mehr so recht klar.«
»Beruhige dich, Mamacita, es ist alles völlig einleuchtend. Wobei ich zuerst an das Stiftungsvermögen gedacht habe. Das von der Schule ist gewaltig, weshalb sie euch damit ohne Weiteres den Umzug bezahlen könnten, aber dem würden die Treuhänder niemals zustimmen, obwohl es logisch wäre.«
»Wäre es das?«, fragte Herb.
»Und ob!« Luke kaute begeistert, schluckte und schlürfte Cola. »Ich bin nämlich eine Investition. Eine Aktie mit bestem Wachstumspotenzial. Schließlich muss man sein Geld vermehren, oder etwa nicht? So funktioniert Amerika. Das würden die Treuhänder auch kapieren, kein Problem, aber sie können sich trotzdem nicht aus dem kognitiven Kerker befreien, in dem sie stecken.«
»Was für ein kognitiver Kerker?«, fragte sein Vater.
»Na, du weißt schon. Ein Kerker, der als Resultat der angestammten Dialektik entstanden ist. Vielleicht ist es sogar ein Ausdruck von Stammesdenken, obwohl es ziemlich absurd ist, sich einen Stamm von Treuhändern vorzustellen. Jedenfalls denken die: ›Wenn wir das für ihn tun, dann müssen wir das auch für andere Schüler tun.‹ Das ist der kognitive Kerker. Der wird sozusagen von Generation zu Generation weitergereicht.«
»Überliefertes Wissen eben«, sagte Eileen.
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Mama. Deshalb werden die Treuhänder diesen Fall den reichen Ehemaligen überlassen, die irrsinnig Geld gescheffelt haben, weil sie ihr Denken nicht einkerkern, und die ihre alte Schule immer noch heiß und innig lieben. Als Verbindungsmann wird Mr. Greer dienen, wenigstens hoffe ich das. Der Deal läuft darauf hinaus, dass sie jetzt mir helfen, und ich helfe später der Schule, wenn ich reich und berühmt bin. Das will ich zwar gar nicht werden, ich bin durch und durch Mittelschicht, aber vielleicht werde ich trotzdem reich, als Nebeneffekt sozusagen. Vorausgesetzt natürlich, dass ich mir keine krasse Krankheit zuziehe oder bei einem Terroranschlag ums Leben komme und so weiter.«
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