In Tankstellenshops gab es massenhaft Snacks, aber nur wenig Erste-Hilfe-Material. Immerhin war Vaseline da. Tim griff sich eine Dose und vom nächsten Regal eine Packung Babywindeln. Letztere riss er auf, während er zu dem Mann auf dem Boden zurückrannte. Er entfernte das inzwischen mit Blut getränkte T-Shirt, zog vorsichtig den ebenso durchtränkten blauen Kittel hoch und machte sich daran, das Hemd aufzuknöpfen, das Dobira darunter trug.
»Nein, nein, nein«, stöhnte Dobira. »Tut weh, nicht anfassen, bitte!«
»Geht nicht anders.« Tim hörte ein Motorengeräusch. In den Glasscherben tanzte blaues Blinklicht. Er sah sich nicht um. »Durchhalten, Mr. Dobira!«
Mit gekrümmten Fingern holte er einen Klumpen Vaseline aus der Dose und drückte ihn in die Wunde. Erst schrie Dobira vor Schmerzen auf, dann sah er Tim mit aufgerissenen Augen an. »Krieg jetzt… ein bisschen… besser Luft.«
»Das ist nur eine provisorische Maßnahme, aber wenn Sie besser atmen können, ist Ihre Lunge wahrscheinlich nicht kollabiert.« Zumindest nicht vollständig, dachte Tim.
Sheriff John kam herein und ließ sich neben Tim auf ein Knie sinken. Über seiner Uniformhose trug er eine Pyjamajacke, groß wie ein Zelt. Seine Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab.
»Sie sind aber schnell hergekommen«, sagte Tim.
»Ich war schon wach. Konnte nicht einschlafen, deshalb hab ich mir gerade ein Sandwich gemacht, als Wendy angerufen hat. Sir, sind Sie Gutaale oder Absimil?«
»Absimil, Sir.« Der Mann auf dem Boden atmete immer noch pfeifend, aber seine Stimme hörte sich kräftiger an. Tim nahm eine Einmalwindel und presste sie auf die Wunde, ohne sie aufzufalten.
»Mann, tut das weh«, stöhnte Absimil.
»War das ein Durchschuss, oder steckt das Ding noch drin?«, fragte Sheriff John.
»Weiß nicht, und ich will ihn nicht wieder auf die Seite drehen, um das herauszufinden. Sein Zustand ist relativ stabil, also sollten wir einfach auf den Rettungswagen warten.«
Tims Funkgerät knisterte. Sheriff John nahm es behutsam aus den überall verstreuten Glasscherben. Es war Wendy. »Tim? Bill Wicklow hat diese Typen draußen auf der Deep Meadow Road entdeckt und die Verfolgung aufgenommen.«
»Wendy, hier spricht John. Sag Bill, er soll vorsichtig sein. Die sind bewaffnet.«
»Die sind erledigt, das sind sie.« So schläfrig Wendy vorher auch gewirkt hatte, jetzt war sie hellwach und hörte sich ausgesprochen zufrieden an. »Als sie abhauen wollten, haben sie ihren Wagen in den Graben gesetzt. Der eine hat sich den Arm gebrochen, den anderen hat Bill an den Kuhfänger von seinem Wagen gekettet. Die State Police ist schon unterwegs. Übrigens hatte Tim recht, es war ein Cruze. Wie geht’s Dobira?«
»Der erholt sich wieder«, sagte Sheriff John. Tim war sich da nicht ganz sicher, aber ihm war klar, dass diese Bemerkung nicht nur für Deputy Gullickson, sondern auch für den Verletzten gedacht war.
»Ich hab denen das Geld aus der Kasse gegeben«, krächzte Dobira. »Das hat man uns so beigebracht.« Dennoch hörte er sich beschämt an. Tief beschämt.
»Das war auch richtig so«, sagte Tim.
»Der mit der Waffe hat trotzdem auf mich geschossen. Dann hat der andere die Schublade aufgebrochen. Um die…« Er hustete wieder.
»Nicht weiterreden«, sagte Sheriff John.
»Um die Lotterielose zu klauen«, fuhr Absimil fort. »Die zum Rubbeln. Die müssen wir unbedingt zurückkriegen. Bis man sie verkauft hat, gehören sie…« Ein mattes Husten. »Dem Staat South Carolina.«
»Jetzt aber still, Mr. Dobira«, sagte Sheriff John. »Hören Sie auf, sich Sorgen um diese verdammten Rubbellose zu machen, und sparen Sie sich Ihre Kraft.«
Absimil Dobira schloss die Augen.
Am nächsten Tag verzehrte Tim unter dem Vordach des Güterbahnhofs gerade sein Mittagessen, als Sheriff John in seinem Privatwagen angefahren kam. Der Sheriff erklomm die Stufen und warf einen Blick auf die durchhängende Sitzfläche des zweiten Sessels, der zur Verfügung stand. »Meinen Sie, der hält mich aus?«
»Das kommt auf den Versuch an«, sagte Tim.
Sheriff John ließ sich vorsichtig nieder. »Das Krankenhaus meldet, dass Dobira tatsächlich wieder in Ordnung kommt. Sein Bruder ist bei ihm, und der sagt, dass er die beiden Dreckskerle schon gesehen hat. Mehrmals sogar.«
»Die haben die Lage ausbaldowert«, sagte Tim.
»Zweifellos. Ich hab Tag Faraday hingeschickt, damit er die Aussagen von den zwei Brüdern aufnimmt. Tag ist mein bester Mann, was ich Ihnen wahrscheinlich nicht erst sagen muss.«
»Gibson und Burkett sind auch nicht schlecht.«
Sheriff John seufzte. »Mag sein, aber keiner von denen hätte so schnell und so entschieden gehandelt, wie Sie das gestern Nacht getan haben. Und die arme Wendy hätte wahrscheinlich bloß dagestanden und gegafft, wenn sie nicht gleich in Ohnmacht gefallen wäre.«
»Als Disponentin ist sie gut geeignet«, sagte Tim. »Wie für den Job geschaffen. Meiner Meinung nach jedenfalls.«
»Mhm, mhm, und was Bürokram angeht, ist sie top – letztes Jahr hat sie unsere ganzen Akten neu geordnet und alles auf USB-Sticks übertragen–, aber im Einsatz ist sie praktisch nutzlos. Immerhin ist sie unheimlich gern im Team. Wie würde es Ihnen denn gefallen, im Team zu sein, Tim?«
»Ich dachte, ein weiterer Beamter wäre finanziell nicht drin. Hat man Ihnen denn unerwartet mehr Geld bewilligt?«
»Schön wär’s. Aber Bill Wicklow gibt am Jahresende seine Dienstmarke ab. Da dachte ich, ihr beide könntet eure Jobs tauschen. Er geht herum und klopft, Sie ziehen eine Uniform an und dürfen wieder eine Waffe tragen. Mit Bill hab ich schon gesprochen, und der hätte nichts dagegen, Nachtklopfer zu werden, zumindest vorläufig.«
»Kann ich mir das ein bisschen überlegen?«
»Aber klar doch.« Sheriff John erhob sich. »Bis zum Jahresende sind es noch fünf Monate. Wir würden uns freuen, Sie dabeizuhaben.«
»Ob Deputy Gullickson wohl auch so denkt?«
Sheriff John grinste. »Ist nicht so einfach, die für sich einzunehmen, aber heute Nacht haben Sie schon einen großen Schritt getan.«
»Ehrlich? Und wenn ich ihr vorschlagen würde, mit mir mal essen zu gehen, was würde sie dann wohl sagen?«
»Ich glaube, sie wäre bereit, solange Sie nicht die Absicht haben, sie ins Bev’s auszuführen. Ein gut aussehendes Mädel wie sie erwartet wenigstens das Roundup in Dunning. Oder diesen mexikanischen Schuppen drüben in Hardeeville.«
»Danke für den Tipp.«
»Gern geschehen. Und denken Sie gut über mein Angebot nach.«
»Das werde ich.«
Was er auch tat. Er war immer noch damit beschäftigt, als in einer heißen Spätsommernacht die Hölle losbrach.
An einem schönen Aprilmorgen desselben Jahres – und damit ungefähr zu der Zeit, wo Tim Jamieson in DuPray eintraf – wurden Herbert und Eileen Ellis in Minneapolis ins Büro von Jim Greer geführt. Der war einer von drei Beratungslehrern an der Broderick-Schule für außergewöhnliche Kinder.
»Luke hat doch nichts angestellt, oder?«, fragte Eileen, als alle sich gesetzt hatten. »Jedenfalls hat er nichts Derartiges erzählt.«
»Ganz und gar nicht«, sagte Greer. Er war Mitte dreißig und hatte schüttere braune Haare und ein Gelehrtengesicht. Zu seinem lässig geknöpften Sporthemd trug er gebügelte Jeans. »Also, Sie wissen doch, wie es hier läuft, nicht wahr? Wie es angesichts der mentalen Fähigkeiten unserer Schüler laufen muss. Die werden beurteilt, aber nicht mit Noten. Das geht nicht anders. Wir haben Zehnjährige mit leichtem Autismus, die mathematisch auf Highschoolniveau sind, aber dafür Lesefähigkeiten wie ein Drittklässler haben. Wir haben Schüler, die vier Fremdsprachen beherrschen, aber Probleme beim Multiplizieren von Brüchen haben. Wir unterrichten sie in allen Fächern, und neunzig Prozent wohnen in unserem Internat – weil sie aus allen Teilen der Vereinigten Staaten kommen, etwa ein Dutzend sogar aus dem Ausland–, aber wir richten unsere Aufmerksamkeit auf ihre speziellen Talente, egal worin die bestehen. Daher ist das althergebrachte System, das vom Kindergarten geradlinig zur zwölften Klasse führt, für uns ziemlich nutzlos.«
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