»Wickies!«, rief sie vergnügt lachend. »So was hab ich nich gefuttert, seit Hector noch ’n Welpe war! Warum sind Sie bloß so gut zu mir, Mr. J.?«
»Weiß auch nicht«, sagte Tim. »Ich glaube, ich mag Sie einfach, Annie. Darf ich eine probieren?«
Sie streckte ihm das Glas hin. »Klar. Aufmachen müssen Sie das Ding sowieso, meine Hände tun so weh von der Arthritis.« Sie spreizte ihre Finger, die so krumm waren, dass sie wie Treibholz aussahen. »Stricken und nähen kann ich noch, aber weiß Gott, wie lang das so bleibt.«
Er öffnete das Glas, rümpfte leicht die Nase, weil der Essiggeruch derart stark war, und fischte eine Gurkenscheibe heraus. Ob das Zeug, das davon heruntertropfte, wohl Formaldehyd war?
»Her damit, her damit!«
Er reichte Annie das Glas und kaute das Gurkenstück. »Du lieber Himmel, da zieht es einem ja das ganze Zahnfleisch zusammen!«
Sie lachte, wobei ihre paar verbliebenen Zähne zum Vorschein kamen. »Am besten sind die mit Brot und Butter und ’nem schönen kühlen RC Cola. Oder ’nem Bier, aber das trink ich nich mehr.«
»Was stricken Sie da eigentlich? Ist das ein Schal?«
»Der Herr wird nicht in seinem eigenen Gewand kommen«, sagte Annie. »Jetzt aber los, Mr. J., tun Sie Ihre Pflicht. Aber hüten Sie sich vor Männern in schwarzen Autos. Von denen redet George Allman im Radio nämlich die ganze Zeit. Woher die kommen, wissen Sie ja, oder?« Sie legte den Kopf schief und warf ihm einen wissenden Blick zu. Eventuell war das ein Scherz gewesen, aber nicht unbedingt. Bei Orphan Annie war so etwas schwer zu beurteilen.
Ein weiterer Bewohner von DuPrays nächtlicher Seite war Corbett Denton. Der städtische Friseur trug den Spitznamen »Drummer«, wegen irgendeiner jugendlichen Heldentat, an die sich niemand mehr richtig erinnerte. Man wusste nur noch, dass man ihn dafür einen Monat lang von der Highschool suspendiert hatte. Gut möglich, dass er in seiner Jugendzeit richtig wild gewesen war, aber die lag weit hinter ihm. Jetzt war Drummer Ende fünfzig oder Anfang sechzig und übergewichtig. Er neigte zur Glatze und litt an Schlaflosigkeit. Wenn er nicht einschlafen konnte, setzte er sich auf die Treppe seines Ladens und betrachtete die verlassene Hauptstraße von DuPray. Verlassen bis auf Tim. Die beiden tauschten sich über belanglose Themen aus, wie man es eben tat, wenn man sich nicht besser kannte – über das Wetter, Baseball, den jährlichen Sommermarkt der Stadt–, aber eines Nachts sagte Denton etwas, was bei Tim die Alarmglocken schrillen ließ.
»Wissen Sie, Jamieson, das Leben, das wir zu leben glauben, ist nicht die Wirklichkeit. Es ist bloß ein Schattenspiel, und ich werde froh sein, wenn die Lichter ausgehen. Im Dunkeln verschwinden die Schatten nämlich alle.«
Tim setzte sich auf die Treppe unter dem Barbierstab, dessen endlose Spirale nachts stillstand. Er nahm seine Brille ab, polierte sie an seinem Hemd und setzte sie wieder auf. »Kann ich offen sprechen?«
Drummer Denton schnippte seine Zigarette in den Rinnstein, wo sie kurz Funken sprühte. »Nur zu. Von Mitternacht bis vier Uhr morgens sollte jeder offen sprechen dürfen. Wenigstens ist das meine Meinung.«
»Sie hören sich wie jemand an, der an einer Depression leidet.«
Drummer lachte. »Und Sie hören sich wie Sherlock Holmes an.«
»Sie sollten mal Doc Roper konsultieren. Es gibt Tabletten, die die Stimmung aufhellen. Meine Ex nimmt die. Obwohl es ihre Stimmung wahrscheinlich noch mehr aufgehellt hat, als sie mich losgeworden ist.« Er grinste als Zeichen, dass seine letzte Bemerkung scherzhaft gemeint war, aber Drummer Denton verzog keine Miene. Er stand lediglich auf.
»Über die Tabletten weiß ich schon Bescheid, Jamieson. Die sind wie Schnaps und Pot. Oder wie dieses Ecstasy, das die Kids heutzutage schlucken, wenn sie zu einem Rave gehen oder wie man das nennt. So Zeug gaukelt einem bloß ’ne Weile vor, dass das Ganze doch wirklich ist. Dass es irgendeinen Sinn ergibt. Aber das ist beides nicht der Fall.«
»Also ehrlich«, sagte Tim leise. »So kann man doch nicht leben.«
»Meiner Meinung nach kann man nur so leben«, sagte der Friseur und ging zu der Treppe, die zu seiner Wohnung über dem Laden führte. Seine Schritte waren langsam und schwerfällig.
Beunruhigt blickte Tim ihm hinterher. Drummer Denton gehörte zu den Leuten, die womöglich in einer regnerischen Nacht beschlossen, sich umzubringen. Vielleicht würde er seinen Hund mitnehmen, wenn er einen hatte. Wie so ein alter ägyptischer Pharao. Tim überlegte, ob er mit Sheriff John darüber reden sollte, doch dann fiel ihm Wendy Gullickson ein, die immer noch nicht aufgetaut war. Auf keinen Fall wollte er, dass sie oder jemand von den anderen Deputys auf die Idee kam, er würde seine Kompetenzen überschreiten. Schließlich war er kein Polizist mehr, sondern nur der städtische Nachtklopfer. Da war es am besten, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Dennoch ging Drummer Denton ihm nie ganz aus dem Sinn.
Als Tim in einer Nacht Ende Juni auf seiner Runde war, sah er zwei Jungen, die mit einem Rucksack auf dem Rücken und einer Lunchbox in den Händen auf der Hauptstraße nach Westen marschierten. So hätten sie zur Schule gehen können, wenn es nicht zwei Uhr morgens gewesen wäre. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den Nachtwanderern um die Bilson-Zwillinge. Sie waren sauer auf ihre Eltern, die sich geweigert hatten, sie zum Rummelplatz in Dunning zu bringen, weil ihre Noten zu schlecht gewesen seien.
»Dabei ham wir hauptsächlich Cs gekriegt und überall bestanden«, sagte Robert Bilson. »Außerdem sind wir nich durchgefallen. Was soll denn da so schlecht dran sein?«
»Es is einfach nich richtig«, fügte Roland Bilson hinzu. »Wir wollen nämlich ganz früh morgens da sein, um uns ’nen Job zu besorgen. Ham gehört, dass die da immer Langhände brauchen.«
Tim wollte dem Jungen schon erklären, dass der korrekte Ausdruck Handlanger lautete, gelangte jedoch zu der Einschätzung, dass das am Thema vorbeiging. »Hört mal, Leute, ich ruiniere eure Pläne zwar nur äußerst ungern, aber wie alt seid ihr eigentlich? Elf?«
»Zwölf!«, riefen beide im Chor.
»Na gut, zwölf. Nicht so laut, die Leute schlafen. Beim Rummelplatz kriegt ihr bestimmt keinen Job. Stattdessen wird man euch in den Käfig stecken, der da für solche Fälle steht, und euch drin lassen, bis eure Eltern aufkreuzen. Bis dahin werden sich die Leute dort versammeln und euch anglotzen. Vielleicht werfen manche von denen euch Erdnüsse oder Speckkrusten rein.«
Die Bilson-Zwillinge starrten ihn bestürzt (und vielleicht auch erleichtert) an.
»Hört mal zu«, sagte Tim. »Ihr geht jetzt schnurstracks nach Hause, und ich folge euch, um dafür zu sorgen, dass euer kollektives Bewusstsein nicht auf dumme Gedanken kommt.«
»Was is denn ein kollektives Bewusstsein?«, fragte Robert.
»Das ist was, was Zwillinge angeblich haben, zumindest wenn man dem Volksmund Glauben schenkt. Habt ihr die Haustür genommen oder seid ihr durchs Fenster geklettert?«
»Fenster«, sagte Roland.
»Okay, dann klettert ihr da auch wieder rein. Wenn ihr Glück habt, merken eure Eltern gar nicht, dass ihr weg wart.«
»Werden Sie’s denen denn nich verraten?«, fragte Robert.
»Nicht, wenn ihr es nicht noch mal versucht«, sagte Tim. »Sonst sage ich denen nicht nur, was ihr getan habt, ich erzähle ihnen auch, wie frech ihr zu mir gewesen seid, als ich euch erwischt habe.«
»Waren wir doch gar nich!«, sagte Robert empört.
»Ich werde lügen«, sagte Tim. »Das kann ich ziemlich gut.«
Er folgte den beiden und sah zu, wie Robert Bilson eine Räuberleiter machte, um Roland in das offene Fenster zu hieven. Dann half Tim Robert auf dieselbe Weise hinein. Er wartete ab, ob irgendwo im Haus das Licht anging und darauf hinwies, dass die Möchtegernausreißer entdeckt worden waren. Als das nicht geschah, nahm er seinen Rundgang wieder auf.
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