Die anderen dachten darüber nach. Dann sagte eines von den Mädchen: »Bist du etwa ein Genie? So eines wie in Kinofilmen?«
»Nein.« Luke musste grinsen. »Aber immerhin hab ich heute in einem Holiday Inn Express übernachtet.«
Die anderen lachten, was gut war. Ein Junge hob die flache Hand, und Luke klatschte ihn ab.
»Wo willst du denn hin?«, fragte der Junge. »Auf welches College, meine ich?«
»Aufs MIT, wenn ich es schaffe«, sagte Luke. Was geschwindelt war; die beiden Colleges seiner Wahl hatten ihn bereits provisorisch zugelassen. Vorausgesetzt, dass er heute gut abschnitt, was kein großes Problem sein würde. Bisher war die Prüfung jedenfalls kinderleicht gewesen. Was ihm Angst machte, waren die Kids, die um ihn herumstanden. Im Herbst würde er in Kursen zusammen mit solchen Kids sitzen, die wesentlich älter waren und etwa doppelt so groß wie er, und natürlich würden alle ihn anglotzen. Darüber hatte er bereits mit Mr. Greer gesprochen. Die würden ihn bestimmt für den totalen Freak halten, hatte er gemeint.
»Worauf es ankommt, ist, wie du dich fühlst«, hatte Mr. Greer erwidert. »Vergiss das möglichst nie. Und falls du eine Beratung brauchen solltest – wenn du einfach jemand brauchst, mit dem du über deine Gefühle sprechen kannst–, dann hol sie dir. Außerdem kannst du mir immer eine Nachricht schicken.«
Eines der Mädchen – hübsch und rothaarig – fragte ihn, ob er die Hotelaufgabe in dem Matheteil gelöst habe.
»Die mit diesem Aaron?«, fragte Luke. »Ja, wahrscheinlich schon.«
»Was hast du denn als Lösung angekreuzt, weißt du das noch?«
Die Aufgabe hatte darin bestanden, herauszubekommen, wie viel ein Typ namens Aaron für x Übernachtungen bezahlen musste, wenn sein Hotelzimmer $ 99,95 pro Nacht plus 8 % Steuer plus eine zusätzliche einmalige Gebühr von fünf Dollar kostete. Natürlich erinnerte Luke sich daran. Es war eine etwas fiese Aufgabe, weil sie den Ausdruck wie viel enthielt. Die Lösung war daher keine Zahl, sondern eine Gleichung.
»Die Lösung war B. Schau mal.« Er zog seinen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb auf die Papiertüte, in der sein Sandwich gesteckt hatte: 1,08 (99,95 x ) + 5.
»Bist du dir sicher?«, fragte das Mädchen. »Ich hatte nämlich A.« Sie bückte sich, griff sich die Papiertüte – wobei er einen Hauch von ihrem Parfüm schnupperte, Flieder, herrlich – und schrieb darauf: 99,95 + 0,08 x + 5.
»Ausgezeichnete Gleichung«, sagte Luke. »Aber das zeigt, wie dich die Leute, die sich solche Prüfungen ausdenken, nach Strich und Faden verarschen.« Er tippte auf die Tüte. »Du hast nur eine einzige Übernachtung berechnet und die Steuer mit den Tagen multipliziert.«
Sie stöhnte.
»Das macht doch nichts«, sagte Luke. »Wahrscheinlich hast du den Rest richtig gemacht.«
»Vielleicht liegst du ja auch falsch, und sie liegt richtig«, sagte einer von den Jungen. Es war der, der Luke abgeklatscht hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Der Kleine hat recht. Das mit der verfickten Steuer hab ich total falsch verstanden. Ich hab’s verbockt.«
Luke sah sie mit hängendem Kopf davontrotten. Einer von den Jungen ging hinter ihr her und legte ihr den Arm um die Taille. Luke beneidete ihn.
Eine der anderen, eine superscharfe Braut mit Designerbrille, setzte sich neben Luke. »Sag mal, Kleiner, fühlt man sich eigentlich komisch?«, fragte sie. »Wenn man so ist wie du, meine ich?«
Luke dachte einen Moment nach. »Manchmal«, sagte er dann. »Normalerweise ist es einfach so, wie es ist, weißt du?«
Einer von der Aufsicht lehnte sich aus der Turnhalle und läutete mit einer Handglocke. »Weiter geht’s, Leute!«
Ziemlich erleichtert stand Luke auf und warf seine Papiertüte in den Mülleimer neben der Tür zur Turnhalle. Er warf einen letzten Blick auf die hübsche Rothaarige, und während er durch die Tür trat, wanderte der Mülleimer knapp zehn Zentimeter nach links.
Die zweite Hälfte der Prüfung war ebenso leicht wie die erste, und beim Aufsatz hatte er wohl ganz passabel abgeschnitten. Jedenfalls hatte er ihn kurz gehalten. Als er aus dem Schultor trat, sah er die hübsche Rothaarige ganz allein weinend auf einer Bank sitzen. Er überlegte, ob sie die Prüfung wohl versemmelt hatte und, falls ja, wie schlimm – nur so, dass sie nicht ins College ihrer Wahl kommen würde, oder so, dass sie sich mit einer minderwertigen Alternative begnügen musste. Er überlegte, wie es wohl war, ein Gehirn zu haben, das irgendwie nicht alle Antworten wusste. Er überlegte, ob er zu ihr hinübergehen und versuchen sollte, sie zu trösten. Er überlegte, ob sie sich wohl von einem Jungen trösten ließe, der eigentlich noch ein Pimpf war. Wahrscheinlich würde sie ihn auffordern, sich schleunigst zu verpissen. Er überlegte sogar, auf welche Weise sich der Mülleimer bewegt hatte – so was war irgendwie unheimlich. Schließlich kam ihm in den Sinn (und zwar mit der Kraft einer Offenbarung), dass das Leben im Grunde eine einzige lange Zulassungsprüfung war, bei der einem anstatt vier oder fünf Auswahlmöglichkeiten Dutzende vorgesetzt wurden. Einschließlich solchem Scheiß wie unter Umständen und vielleicht, vielleicht auch nicht.
Seine Mutter winkte ihm. Er winkte zurück und rannte zu ihrem Wagen. Als er eingestiegen war und sich angeschnallt hatte, erkundigte sie sich, wie er seiner Meinung nach abgeschnitten habe.
»Mit links!«, sagte Luke. Er stellte sein sonnigstes Grinsen zur Schau, musste jedoch dauernd an das rothaarige Mädchen denken. Dass sie jetzt weinte, war schlimm, aber wie sie den Kopf hatte hängen lassen, als er sie auf den Fehler in ihrer Gleichung hingewiesen hatte – wie eine Blume in zu trockener Erde–, war noch schlimmer gewesen.
Er wollte sich zwingen, nicht mehr darüber nachzudenken, aber das klappte natürlich nicht. »Versuch, nicht an einen Eisbären zu denken«, hatte Fjodor Dostojewski einmal geschrieben. »Und du wirst sehen, dass das verfluchte Ding dir jede Minute in den Sinn kommt.«
»Mama?«
»Was denn?«
»Meinst du, unser Erinnerungsvermögen ist ein Segen oder ein Fluch?«
Darüber musste sie gar nicht erst nachdenken; offenbar erinnerte sie sich an weiß Gott was. »Beides, Schatz.«
Während Tim Jamieson im Juni um zwei Uhr morgens nachtklopfend die Hauptstraße von DuPray entlangging, bog in einem nördlichen Außenbezirk von Minneapolis ein schwarzer SUV in den Wildersmoot Drive ein. Das war ein irrer Straßenname; Luke und sein Freund Rolf sagten stattdessen Wilderschmus Drive, zum einen, weil der Name dadurch noch irrer wurde, und zum anderen, weil sie sich beide wie wild danach sehnten, mit einem Mädchen zu schmusen.
In dem SUV saßen ein Mann und zwei Frauen. Der Mann hieß Denny, die Frauen waren Michelle und Robin. Denny saß am Steuer. Als sie die Hälfte der gewundenen, stillen Straße hinter sich hatten, schaltete er die Scheinwerfer aus, ließ den Wagen an den Bordstein rollen und stellte den Motor ab. »Ihr seid euch sicher, dass der kein TP ist, oder? Ich hab nämlich meinen Aluhut nicht mitgebracht.«
»Ha, ha«, machte Robin absolut tonlos. Sie saß auf dem Rücksitz.
»Er ist bloß ein durchschnittlicher TK«, sagte Michelle. »Kein Grund, dir in die Gummihose zu pinkeln. Machen wir uns ans Werk.«
Denny klappte die Konsole zwischen den beiden Vordersitzen auf und entnahm ihr ein Mobiltelefon, das wie ein Flüchtling aus den Neunzigern aussah: kantige, rechteckige Form mit Antennenstummel. Er reichte es Michelle. Während sie eine Nummer wählte, öffnete er den falschen Boden der Konsole und holte dünne Latexhandschuhe, zwei Glock Modell 37 und eine Sprühdose heraus, die laut Etikett ein Raumspray der Firma Glade enthielt. Eine der Pistolen reichte er Robin nach hinten, eine behielt er selbst. Die Sprühdose gab er Michelle.
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