Mrs. Sigsby blickte erfreut drein. »Alle fünf schon heute! Anscheinend führe ich ein korrektes Leben!«
Du kannst nicht einfach sagen, offensichtlich mach ich irgendwas richtig, dachte Hendricks (alias Donkey Kong). Dir könnte glatt ein Zacken aus der Pedantenkrone fallen.
»Also, heute kommen nur zwei«, sagte Rosalind. »Heute Nacht, genauer gesagt. Von Team Smaragd. Drei kommen morgen von Team Opal. Vier sind TK. Einer ist TP, und der ist ein richtig guter Fang. Dreiundneunzig Nanogramm BDNF.«
»Avery Dixon, nicht wahr?«, sagte Mrs. Sigsby. »Aus Salt Lake City.«
»Aus Orem«, berichtigte Rosalind.
»Ein Mormone aus Orem«, sagte Dr. Hendricks und brach in sein wieherndes Lachen aus.
Das ist wirklich ein guter Fang, dachte Mrs. Sigsby. Auf Dixons Formular würde kein rosa Punkt kleben. Dafür war er zu wertvoll. Kein Fall für viele Injektionen, riskante Krampfanfälle und die Vorstellung zu ertrinken. Bei einem BDNF von über 90 kam das nicht infrage.
»Ausgezeichnete Nachrichten. Wirklich ausgezeichnet. Holen Sie gleich mal die Akten, und legen Sie sie auf meinen Schreibtisch. Per E-Mail haben Sie alles wohl schon geschickt?«
»Natürlich.« Rosalind lächelte. Die ganze Welt kommunizierte per E-Mail, aber es war bekannt, dass Mrs. Sigsby lieber Papier als Pixel vor sich hatte; in der Hinsicht war sie vom alten Schlag. »Ich hole die Akten unverzüglich.«
»Samt Kaffee, bitte, und zwar ebenfalls unverzüglich.«
Mrs. Sigsby wandte sich Dr. Hendricks zu. So ein langer Lulatsch, und trotzdem schleppt er eine Wampe mit sich rum, dachte sie. Als Arzt hätte er wissen sollen, wie gefährlich das war, besonders für jemand von seiner Größe, bei dem das Gefäßsystem ohnehin schon härter arbeiten musste. Aber bekanntlich war niemand so gut darin, die medizinischen Realitäten zu ignorieren, wie ein Mediziner.
Weder Mrs. Sigsby noch Hendricks waren TP, hatten in diesem Augenblick jedoch trotzdem denselben Gedanken: Wie viel leichter alles doch wäre, wenn man sich mögen anstatt gegenseitig verabscheuen würde!
Sobald die beiden wieder allein waren, lehnte Mrs. Sigsby sich zurück und blickte den über ihr aufragenden Arzt an. »Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Intelligenz des jungen Mr. Ellis keine Bedeutung für unsere Arbeit im Institut hat. Er könnte genauso gut einen IQ von fünfundsiebzig haben. Allerdings ist die Intelligenz genau der Grund, weshalb wir ihn relativ früh einkassiert haben. Schließlich ist er nicht nur an einem, sondern an gleich zwei erstklassigen Colleges angenommen worden, am MIT und am Emerson.«
Hendricks blinzelte. »Mit zwölf? «
»Richtig. Die Ermordung seiner Eltern und sein anschließendes Verschwinden werden zwar Schlagzeilen machen, aber außerhalb der Twin Cities keine großen Wellen schlagen. Eventuell läuft die Sache eine Woche lang durchs Internet. Wesentlich mehr Aufsehen hätte es erregt, wenn er sich vorher in Boston als akademische Sensation etabliert hätte. Kinder, die so was schaffen, bringt man gern in den Fernsehnachrichten, damit die Leute was zu staunen haben. Und was sage ich immer, Doc?«
»Dass in unserem Metier keine Nachrichten gute Nachrichten sind.«
»Genau. Wenn alles perfekt liefe, hätten wir auf so jemand verzichtet. An TKs haben wir bekanntlich keinen Mangel.« Sie tippte auf den rosa Punkt auf dem Formular. »Das weist darauf hin, dass sein BDNF nicht mal besonders hoch ist. Allerdings…«
Sie musste nicht zu Ende sprechen. Bestimmte Ressourcen wurden allmählich seltener. Elefantenstoßzähne. Tigerfelle. Rhinozeroshörner. Seltene Metalle. Sogar Erdöl. Dazu kamen neuerdings auch solche speziellen Kinder, deren außergewöhnliche Eigenschaften nichts mit ihrem IQ zu tun hatten. In dieser Woche würden noch weitere fünf eintreffen, darunter der kleine Dixon. Ein sehr guter Fang, aber noch vor zwei Jahren hätten sie womöglich dreißig schnappen können.
»Ach, sehen Sie mal!«, sagte Mrs. Sigsby. Auf dem Bildschirm ihres Computers näherte sich der Neuankömmling der dienstältesten Insassin des Vorderbaus. »Gleich wird er Benson kennenlernen, dieses neunmalkluge Ding. Die wird ihm die Situation erläutern… beziehungsweise eine Version davon.«
»Tja, die ist immer noch im Vorderbau«, sagte Hendricks. »Wir sollten sie zum Empfangskomitee ernennen, verdammt noch mal.«
Mrs. Sigsby bedachte ihn mit ihrem eisigsten Lächeln. »Dazu wäre sie jedenfalls besser geeignet als Sie, Doc.«
Hendricks blickte auf sie hinunter. Von hier oben kann ich sehen, wie schnell deine Haare dünner werden, Siggers, hätte er gern gesagt. Das ist eine Folge deiner leichten, aber schon lange praktizierten Anorexie. Deine Kopfhaut ist so rosa wie die Augen eines Albinokaninchens.
Es gab vieles, was er gern zu ihr gesagt hätte, zu dieser grammatikalisch perfekten, tittenlosen Verwaltungschefin des Instituts. Aber er sagte nie etwas. Es wäre unklug gewesen.
Auf dem Weg durch den aus Hohlblocksteinen gemauerten Flur kam Luke an mehreren Türen und weiteren Postern vorüber. Das Mädchen saß unter einem Plakat, auf dem ein schwarzer Junge und ein weißes Mädchen die Stirn aneinandergelegt hatten und dabei wie Volltrottel grinsten. Der Spruch darunter lautete: ENTSCHIEDEN GLÜCKLICH!
»Na, wie gefällt dir das?«, fragte das schwarze Mädchen. Aus der Nähe stellte sich heraus, dass die aus ihrem Mund hängende Zigarette aus Zuckerzeug war. »Ich würde ja gerne ENTSCHIEDEN FICKDICH draus machen, aber dann würden sie mir wahrscheinlich meinen Kugelschreiber wegnehmen. Manchmal lassen sie einem solchen Scheiß durchgehen, aber nicht immer. Das Problem ist, dass man nicht sagen kann, wie die Dinge sich entwickeln werden.«
»Wo bin ich hier?«, fragte Luke. »Was ist das für ein Ort?« Er hätte am liebsten losgeheult. Was wohl hauptsächlich daran lag, dass er desorientiert war.
»Willkommen im Institut«, sagte sie.
»Sind wir noch in Minneapolis?«
Sie lachte. »Ganz im Gegenteil. Und in Kansas sind wir auch nicht mehr, Toto. Wir sind in Maine. Irgendwo in der Pampa. Jedenfalls behauptet das Maureen.«
»In Maine? « Er schüttelte den Kopf, als hätte er einen Faustschlag an die Schläfe bekommen. »Echt jetzt?«
»Jep. Du siehst mächtig weiß aus, weißer Junge. Ich glaube, du solltest dich hinsetzen, bevor du umkippst.«
Während er sich auf den Boden setzte, stützte er sich mit einer Hand ab, weil seine Beine sich nicht so beugten, wie sie es hätten tun sollen. Es war eher wie ein Kollaps.
»Ich war zu Hause«, sagte er. »Ich war zu Hause, und dann bin ich hier aufgewacht. In einem Zimmer, das wie mein Zimmer aussieht, es aber nicht ist.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ziemlicher Schock, was?« Sie zwängte die Hand in ihre Hosentasche und zog ein Schächtelchen heraus. Geschmückt war es mit dem Bild eines Cowboys, der ein Lasso schwang. RODEO ZUCKER-ZIGARETTEN stand darauf. RAUCH WIE DEIN DADDY! »Willst du eine? In deinem Geisteszustand ist ein bisschen Zucker vielleicht hilfreich. Mir hilft so was in solchen Fällen immer.«
Luke nahm das Schächtelchen entgegen. Es waren noch sechs Zigaretten übrig, die alle eine rote Spitze hatten. Das sollte wohl die Glut darstellen. Er zog eine heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und biss sie in zwei Teile. Süße überflutete seinen Mund.
»Tu das bloß nicht mit einer echten Zigarette«, sagte sie. »Das schmeckt nämlich nicht halb so gut.«
»Ich wusste gar nicht, dass so Zeug überhaupt noch verkauft wird«, sagte er.
»Die Sorte hier verkaufen sie sicher nicht mehr«, sagte sie. »Rauchen wie dein Daddy? Was für ein Schwachsinn. Das muss eine Antiquität sein. Allerdings haben sie im Aufenthaltsraum allerhand krassen Scheiß. Unter anderem echte Zigaretten, kaum zu glauben. Sämtliche Marken, Lucky Strike und Chesterfield und Camel, genau wie in den alten Filmen auf Turner Classic Movies. Ich würde ja gerne mal welche probieren, aber Mann, dafür braucht man massenhaft Münzen.«
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