Luke lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über seiner schmalen Brust. Er dachte an Maureen und daran, wie freundlich sie ihm das Haar gezaust hatte. Nur eine kleine, zerstreute Geste, aber sie (und die Wertmünzen) hatten Tonys Ohrfeige etwas von ihrer Schärfe genommen. Hatte Kalisha nicht gesagt, Maureen habe vierzigtausend Dollar Schulden? Nein, eher den doppelten Betrag.
Teilweise wegen dieser freundlichen Geste und teilweise einfach, um sich die Zeit zu vertreiben, googelte Luke Hilfe ich bin total verschuldet. Sofort lieferte der Computer ihm allerhand Informationen über das Thema, darunter mehrere Anbieter, die behaupteten, es sei kinderleicht, das lästige Problem loszuwerden; dazu müsse der mit dem Rücken zur Wand stehende Schuldner lediglich einen einzigen Telefonanruf tätigen. Das bezweifelte Luke, aber manche Leute würden es wohl glauben; auf die Weise waren sie ja gerade in ihren Schlamassel geraten.
Zu diesen Leuten zählte Maureen Alvorson jedoch nicht, zumindest laut Kalisha. Die hatte erzählt, die Schulden habe der Mann von Maureen angehäuft, bevor er abgehauen sei. Das stimmte vielleicht oder auch nicht, aber in jedem Fall gab es Lösungen für so ein Problem. Die gab es immer, es ging nur darum, sie zu finden. Vielleicht war der Computer ja doch nicht nutzlos.
Luke rief die Websites auf, die ihm am zuverlässigsten vorkamen, und steckte bald tief im Thema Schulden und Tilgung. Sein alter Hunger, etwas zu wissen, ergriff ihn wieder. Etwas Neues zu erfahren. Die Kernfragen einzugrenzen und zu begreifen. Wie immer führte jede Information zu drei (oder sechs oder zwölf) weiteren, bis sich allmählich ein zusammenhängendes Bild entwickelte. Eine Art Geländekarte. Das interessanteste Konzept – der Dreh- und Angelpunkt, an dem alles andere hing – war simpel, aber atemberaubend (zumindest für Luke). Schulden waren gewissermaßen eine Handelsware. Sie wurden gekauft und verkauft, und irgendwann waren sie zum Mittelpunkt nicht nur der amerikanischen Wirtschaft geworden, sondern zu dem der ganzen Welt. Dennoch existierten sie eigentlich nicht. Sie waren nichts Konkretes wie Erdgas, Gold oder Diamanten; sie waren lediglich eine Idee. Ein Zahlungsversprechen.
Als der Nachrichtenton des Computers erklang, schüttelte Luke den Kopf, als würde er aus einem lebhaften Traum erwachen. Laut der Zeitanzeige auf dem Bildschirm war es kurz vor siebzehn Uhr. Er klickte auf das Ballon-Icon unten auf dem Bildschirm und las:
Mrs. Sigsby: Hallo Luke, ich leite diese Einrichtung, und ich möchte gerne mit dir sprechen.
Er überlegte, dann begann er zu tippen.
Luke: Habe ich denn eine andere Wahl?
Die Antwort kam sofort:
Mrs. Sigsby: Nein. 
»Deinen Smiley kannst du dir in den…«
Es klopfte an der Tür. Als er sie öffnete, erwartete er Gladys, aber diesmal war es Hadad, einer der Typen aus dem Aufzug.
»Na, wie wär’s mit einem Spaziergang, Alter?«
Luke seufzte. »Einen Moment. Ich muss meine Schuhe anziehen.«
»Null Problemo.«
Hadad führte ihn am Aufzug vorbei zu einer Tür, die er mit einer Karte entriegelte. Nebeneinander gingen sie das kurze Stück zum Verwaltungsgebäude hinüber, damit beschäftigt, die Stechmücken wegzuwedeln.
Mrs. Sigsby erinnerte Luke an Tante Rhoda, die älteste Schwester seines Vaters. Wie diese war sie so hager, dass man kaum eine Andeutung von Hüften und Brüsten sah. Nur dass Tante Rhoda Lachfältchen um den Mund und immer einen warmherzigen Blick hatte. Sie genoss es, andere Leute zu umarmen. Von der Frau, die in einem violetten Kostüm und passenden High Heels neben ihrem Schreibtisch stand, waren wohl keine Umarmungen zu erwarten. Vielleicht ab und zu ein Lächeln, aber ausgesprochen selten. In den Augen von Mrs. Sigsby sah Luke einen sorgfältig abschätzenden Ausdruck und sonst nichts. Absolut nichts.
»Danke, Hadad, ich komme alleine zurecht.«
Der Pfleger – so musste man Hadad wohl bezeichnen – nickte respektvoll und verließ das Büro.
»Fangen wir mit etwas Offensichtlichem an«, sagte sie. »Wir sind allein. Ich verbringe mit jedem Neuankömmling bald nach seinem Eintreffen etwa zehn Minuten allein. Manche waren so desorientiert und wütend, dass sie versucht haben, mich anzugreifen. Das nehme ich ihnen nicht übel. Weshalb sollte ich das tun, um Himmels willen? Unsere ältesten Insassen sind sechzehn, das Durchschnittsalter beträgt elf Jahre und sechs Monate. Anders gesagt, handelt es sich um Kinder, und Kinder verfügen über eine bestenfalls schwache Impulskontrolle. Deshalb sehe ich ein solch aggressives Verhalten als Gelegenheit, ihnen etwas beizubringen… und das tue ich. Ob ich dir wohl etwas beibringen muss, Luke?«
»Nicht in dieser Hinsicht«, sagte Luke. Er fragte sich, ob Nicky wohl zu denen gehörte, die versucht hatten, diese gepflegte kleine Frau zu attackieren. Vielleicht würde er später danach fragen.
»Gut. Setz dich, bitte.«
Luke setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, beugte sich vor und verschränkte zwischen den Knien fest die Hände. Mrs. Sigsby saß ihm mit dem Blick einer Schuldirektorin gegenüber, die keinerlei Unsinn duldete. Die hart gegen jeden Unsinn vorgehen würde. Bisher war Luke noch auf keinerlei gnadenlose Erwachsene getroffen, aber jetzt hatte er vielleicht so jemand vor sich. Das war eine erschreckende Vorstellung, weshalb sein erster Impuls darin bestand, sie als lächerlich abzutun. Er unterdrückte die Regung. Es war besser anzunehmen, dass er bisher einfach nur ein behütetes Leben geführt hatte. Es war besser – und sicherer–, die Frau als das zu sehen, wofür er sie hielt, falls sie ihm nicht das Gegenteil bewies. Er war in einer schlimmen Lage, daran bestand kein Zweifel. Sich etwas vorzumachen konnte der größtmögliche Fehler sein.
»Du hast schon Freundschaften geschlossen, Luke. Das ist gut, ein guter Anfang. Während deiner Zeit im Vorderbau wirst du noch weitere Kinder kennenlernen. Zwei davon, ein Junge namens Avery Dixon und ein Mädchen namens Helen Simms, sind soeben eingetroffen. Jetzt schlafen sie, aber du wirst bald ihre Bekanntschaft machen, die von Helen vielleicht schon, bevor um zweiundzwanzig Uhr die Nachtruhe beginnt. Avery wird eventuell die ganze Nacht durchschlafen. Er ist noch ziemlich jung und wird bestimmt in einem ziemlich emotionalen Zustand sein, wenn er aufwacht. Ich hoffe, dass du ihn unter deine Fittiche nehmen wirst, was gewiss auch Kalisha, Iris und George tun werden. Womöglich sogar Nick, obgleich man seine Reaktion schwer vorhersehen kann. Das gilt auch für ihn selbst, vermute ich. Wenn du Avery hilfst, sich in seiner neuen Situation zu akklimatisieren, wirst du dir Wertmünzen verdienen, die – wie du weißt – hier im Institut als primäres Zahlungsmittel dienen. Ob du das tust, bleibt ganz dir überlassen, aber wir werden dich beobachten.«
Das ist mir völlig klar, dachte Luke. Und belauschen werdet ihr mich auch. Außer an den wenigen Orten, wo das nicht möglich ist. Falls Maureen damit recht hat.
»Deine Freunde haben dir eine Reihe Informationen gegeben, die teilweise zutreffend und teilweise absolut unzutreffend sind. Was ich dir jetzt erzählen werde, ist in jeder Hinsicht zutreffend, also hör sorgfältig zu.« Sie beugte sich vor, legte die Hände flach auf den Tisch und sah ihm in die Augen. »Spitzt du die Ohren, Luke? Ich werde das, was ich jetzt sage, nämlich nicht wiederkäuen, wie es so schön heißt.«
»Ja.«
»Ja was?«, fuhr sie ihn an, während ihre Miene völlig ruhig blieb.
»Ohren gespitzt. Volle Aufmerksamkeit.«
»Ausgezeichnet. Du wirst einen gewissen Zeitraum im Vorderbau verbringen. Das können zehn Tage oder auch zwei Wochen sein, womöglich sogar ein ganzer Monat, wenngleich nur wenige von unseren Rekruten so lange bleiben.«
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