»Rekruten? Wollen Sie damit sagen, dass ich eingezogen worden bin?«
Sie nickte energisch. »Genau das will ich sagen. Es tobt ein Krieg, und du bist aufgerufen worden, deinem Land zu dienen.«
»Aber wieso? Weil ich ab und zu ein Glas oder ein Buch verschieben kann, ohne es anzufassen? Das ist doch be…«
»Halt den Mund!«
Davon beinah genauso geschockt wie von Tonys brutaler Ohrfeige, gehorchte Luke.
»Wenn ich spreche, hörst du zu. Du unterbrichst mich nicht. Ist das klar?«
Da Luke seiner Stimme nicht vertraute, nickte er nur.
»Man könnte auch sagen, es handelt sich um ein Wettrüsten mit geistigen Waffen, und wenn wir es verlieren, wären die Folgen mehr als schrecklich; sie wären unvorstellbar. Du bist zwar erst zwölf, aber dennoch bist du ein Soldat in einem nicht erklärten Krieg. Dasselbe gilt für Kalisha und die anderen. Gefällt dir das? Natürlich nicht. Leuten, die eingezogen werden, gefällt das nie, weshalb man ihnen manchmal beibringen muss, dass es Konsequenzen hat, wenn sie Befehle nicht befolgen. Ich glaube, du hast diesbezüglich bereits eine Lektion erhalten. Wenn du so gescheit bist, wie es deine Akten nahelegen, brauchst du vielleicht keine weitere. Falls doch, wirst du sie erhalten. Das hier ist nicht dein Zuhause, und deine Schule ist es auch nicht. Du musst dann nicht einfach eine zusätzliche Aufgabe im Haushalt erledigen oder zum Direktor oder nachsitzen, sondern du wirst bestraft werden. Klar?«
»Ja.« Gute Jungen und Mädchen bekamen Münzen, böse wurden mit Ohrfeigen traktiert. Oder Schlimmerem. Ein grauenvolles, aber simples Verfahren.
»Du wirst eine Reihe Injektionen erhalten. Außerdem werden mehrere Tests an dir durchgeführt. Währenddessen wird dein physischer und mentaler Zustand überwacht. Irgendwann wirst du dann in den sogenannten Hinterbau überstellt, wo du verschiedene Dienste zu leisten hast. Dein Aufenthalt im Hinterbau kann bis zu sechs Monate dauern; die durchschnittliche Länge des aktiven Dienstes beträgt allerdings lediglich sechs Wochen. Anschließend werden deine Erinnerungen ausgelöscht, und dann schicken wir dich heim zu deinen Eltern.«
»Die sind am Leben? Meine Eltern sind noch am Leben?«
Sie lachte, was sich erstaunlich fröhlich anhörte. »Natürlich sind sie noch am Leben. Wir sind doch keine Mörder, Luke!«
»Dann will ich mit ihnen sprechen. Wenn Sie mich mit ihnen sprechen lassen, tue ich alles, was Sie wollen.« Die Worte waren ihm aus dem Mund geschlüpft, bevor ihm klar wurde, wie unbesonnen sein Versprechen war.
»Nein, Luke. Offenbar verstehen wir uns immer noch nicht richtig.« Sie lehnte sich zurück und legte die Hände wieder flach auf den Tisch. »Das hier ist keine Verhandlung. Du wirst in jedem Falle tun, was wir wollen. Glaub mir das lieber, dann ersparst du dir eine Menge Schmerzen. Während deines Aufenthalts im Institut wirst du keinerlei Kontakt mit der Außenwelt haben, was deine Eltern einschließt. Du wirst sämtliche Anordnungen befolgen. Du wirst dich an sämtliche Vorschriften halten. Dennoch wirst du die Anordnungen und Vorschriften weder hart noch beschwerlich finden, bis auf ein paar wenige Ausnahmen vielleicht. Deine Zeit hier wird rasch vergehen, und wenn du uns verlässt und eines schönen Morgens im eigenen Zimmer aufwachst, wird nichts von alledem geschehen sein. Leider wirst du nicht einmal wissen, dass du das wunderbare Privileg hattest, deinem Land zu dienen. Was zumindest ich traurig finde.«
»Ich weiß nicht, wie das gehen soll«, sagte Luke. Er sprach mehr zu sich selbst als zu Mrs. Sigsby, was er immer tat, wenn etwas – ein physikalisches Problem, ein Gemälde von Manet, die kurz- und langfristigen Auswirkungen von Schulden – seine Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch nahm. »Mich kennen so viele Leute. In der Schule… die Kollegen von meinen Eltern… meine Freunde… Man kann doch nicht die Erinnerung von denen allen auslöschen.«
Sie lachte nicht, aber sie lächelte. »Ich glaube, du wärst verblüfft darüber, was wir alles tun können. Aber jetzt sind wir fertig.« Sie erhob sich, kam um den Tisch herum und streckte ihm die Hand hin. »Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«
Luke stand ebenfalls auf, ergriff die Hand jedoch nicht.
»Gib mir die Hand, Luke.«
Etwas in ihm wollte gehorchen, alte Gewohnheiten waren schwer abzulegen, aber er ließ die Hand an der Seite hängen.
»Gib mir die Hand, sonst wirst du es bereuen. Ich sag es dir nicht noch einmal.«
Er sah, dass sie es voll und ganz meinte, deshalb gab er ihr die Hand. Sie hielt sie fest. Sie drückte zwar nicht zu, aber er merkte, dass ihre Hand sehr kräftig war. Ihre Augen bohrten sich in seine. »Wir sehen uns, wie man so sagt, eventuell mal auf dem Campus, aber der jetzige ist hoffentlich dein einziger Besuch in meinem Büro. Solltest du noch einmal hierherbestellt werden, wird unsere Unterhaltung weniger angenehm sein. Hast du verstanden?«
»Ja.«
»Gut. Ich weiß, dass alles eine dunkle Zeit für dich ist, aber wenn du tust, was man dir sagt, wirst du irgendwann in den Sonnenschein hinaustreten. Glaub mir. Und jetzt ab mit dir!«
Als er das Zimmer verließ, fühlte er sich wieder wie in einem Traum oder wie Alice im Kaninchenbau. Er wurde von Hadad erwartet, der mit der Sekretärin oder Assistentin von Mrs. Sigsby oder wie auch immer plauderte. »Ich bringe dich in dein Zimmer zurück. Bleib schön nah neben mir, ja? Versuch bloß nicht, in den Wald zu rennen.«
Sie gingen hinaus, aber auf dem Weg zum Vorderbau blieb Luke stehen, weil ihm plötzlich schwindlig wurde. »Halt«, sagte er. »Warten Sie mal.«
Er beugte sich vor und stützte sich auf die Knie. Einen Moment lang wimmelten farbige Lichter vor seinen Augen.
»Kippst du vielleicht gleich um?«, fragte Hadad. »Was meinst du?«
»Nein«, sagte Luke. »Aber lassen Sie mir noch ein paar Sekunden Zeit.«
»Klar doch. Du hast eine Spritze bekommen, oder?«
»Ja.«
Hadad nickte. »Auf manche Kids wirkt das so. Verzögerte Reaktion.«
Luke wartete auf die Frage, ob er Blitze oder Punkte sehe, aber Hadad wartete nur. Dabei pfiff er durch die Zähne und wedelte die ihn umschwärmenden Stechmücken weg.
Luke dachte an die kalten Augen von Mrs. Sigsby und an ihre strikte Weigerung, ihm zu sagen, wie ein solcher Ort überhaupt existieren könne ohne irgendeine Form von… Wie konnte man das sagen? Ohne Mitwirkung der Behörden vielleicht. Es war, als würde sie ihn dazu herausfordern, selbst die logischen Schlüsse zu ziehen.
Wenn du tust, was man dir sagt, wirst du irgendwann in den Sonnenschein hinaustreten. Glaub mir.
Er war erst zwölf und wusste, dass seine Lebenserfahrung beschränkt war, aber eines war ihm vollständig klar: Wenn jemand glaub mir sagte, dann log er normalerweise nach Strich und Faden.
»Fühlst du dich besser? Können wir weitergehen, mein Sohn?«
»Ja.« Luke richtete sich auf. »Aber ich bin nicht Ihr Sohn.«
Hadad grinste, wobei sein Goldzahn aufblitzte. »Vorläufig schon. Du bist ein Sohn des Instituts, Luke. Lass einfach locker und gewöhn dich daran.«
Sobald sie das Gebäude betreten hatten, rief Hadad den Aufzug, sagte: »See you later, alligator« und trat hinein. Luke wollte sich schon auf den Weg zu seinem Zimmer machen, als er Nicky Wilholm gegenüber dem Eiswürfelspender auf dem Boden sitzen und ein Schokotörtchen futtern sah. Über ihm hing ein Poster mit zwei im Comicstil gezeichneten Streifenhörnchen, aus deren grinsenden Mäulern Sprechblasen kamen. Das linke Hörnchen sagte: »Lebe das Leben, das du liebst!« Das andere sagte: »Liebe das Leben, das du lebst!« Verwirrt starrte Luke darauf.
»Was meinst du, wie man so ein Poster an einem solchen Ort nennt, kluger Junge?«, fragte Nicky. »Ironisch, sarkastisch oder schlicht Bullshit?«
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