»Die sehen wie Kinder aus!«
Robichaux nickte. »Falls sie nicht kleinwüchsig sind, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Jetzt kommt es, Mr. Stearns.«
Die Kinder fassten sich an den Händen und bildeten einen Kreis. Einen Moment lang verzerrte sich das Bild wie durch eine elektrische Interferenz. Dann spuckte das Gerät wie ein Spielautomat im Casino einen Schein nach dem anderen aus.
»Was ist denn da los?«
Robichaux schüttelte den Kopf. »Das weiß ich auch nicht, aber die haben mehr als zweitausend Dollar eingesteckt, obwohl der Automat eigentlich an niemand mehr als achthundert auszahlen soll. So ist er eingestellt. Ich denke, wir sollten irgendjemand anrufen, aber ich weiß nicht, wen.«
Stearns sagte nichts. Er beobachtete nur fasziniert, wie die kleinen Banditen – sie sahen aus, als wären sie noch nicht mal in der Highschool – das Geld einsteckten.
Dann waren sie fort.
Etwa drei Monate später schlenderte Tim Jamieson an einem kühlen Oktobermorgen die Zufahrt entlang, die von der Catawba Hill Farm zur South Carolina State Road 12-A führte. Der Spaziergang dauerte eine Weile, da die Zufahrt beinahe eine halbe Meile lang war. Wäre sie noch länger gewesen, sagte er gern scherzhaft zu Wendy, hätte man sie als South Carolina State Road 12-B bezeichnen können. Er trug ausgeblichene Jeans, verdreckte Arbeitsstiefel Marke Georgia Giant und ein Sweatshirt, das so groß war, dass es ihm bis hinunter zu den Oberschenkeln reichte. Es war ein Geschenk, das Luke für ihn im Internet bestellt hatte. Auf der Brust standen in goldenen Lettern zwei Wörter: DER AVESTER. Tim hatte Avery Dixon nie kennengelernt, trug das Shirt aber trotzdem gern. Sein Gesicht war tief gebräunt. Die Farm wurde schon seit zehn Jahren nicht mehr als solche betrieben, aber hinter der Scheune breitete sich ein riesiger Garten aus, und jetzt war Erntezeit.
Tim erreichte den Briefkasten, klappte ihn auf und wollte gerade die übliche Werbung herausziehen (echte Post bekam heutzutage offenbar niemand mehr), als er erstarrte. Sein Magen, dem es auf dem Weg hierher bestens gegangen war, schien sich zusammenzuziehen. Da kam ein Wagen, bremste ab und fuhr an den Straßenrand. Er hatte nichts Besonderes an sich, es war nur ein Chevy Malibu, von rötlichem Staub bedeckt und mit massenhaft zerquetschten Insekten am Kühlergrill. Ein Nachbar war es nicht, die Autos von denen kannte Tim alle, aber es hätte ein Vertreter sein können oder jemand, der sich verfahren hatte und nach dem Weg fragen wollte. Nur war das nicht der Fall. Tim wusste nicht, wer der Mann am Lenkrad war, nur dass er – Tim – auf ihn gewartet hatte. Jetzt war es so weit.
Er klappte den Briefkasten zu und griff mit der Hand nach hinten, als wollte er seinen Gürtel zurechtrücken. Der Gürtel war da, wo er sein sollte, ebenso die Waffe, eine Glock, die einmal einem rothaarigen Deputy namens Taggart Faraday gehört hatte.
Der Mann stellte den Motor ab und stieg aus. Er trug Jeans, die wesentlich neuer waren als die von Tim – sie hatten noch die Bügelfalte vom Laden–, und ein weißes, bis zum Hals zugeknöpftes Hemd. Sein Gesicht war zugleich ansprechend und nichtssagend, ein Gegensatz, der einem unmöglich vorgekommen wäre, bis man so jemand vor sich sah. Die Augen waren blau, die Haare hatten den nordischen Blondton, der beinahe weiß wirkte. Eigentlich sah er genauso aus, wie die verstorbene Julia Sigsby ihn sich vorgestellt hatte. Er wünschte Tim einen guten Morgen, und Tim erwiderte den Gruß mit der Hand hinter dem Rücken.
»Sie sind Tim Jamieson.« Der Besucher streckte ihm die Hand hin.
Tim sah sie an, ohne sie zu schütteln. »Der bin ich. Und wer sind Sie?«
Der blonde Mann lächelte. »Sagen wir mal, ich heiße William Smith. Das ist der Name auf meinem Führerschein.« Jedes S am Wortanfang war leicht gelispelt. »Sagen Sie doch Bill zu mir.«
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Smith?«
Der Mann, der sich Bill Smith nannte – ein Name, so anonym wie sein Pkw–, blinzelte in den frühen Sonnenschein. Lächelte leicht, als müsste er sich zwischen mehreren möglichen Antworten auf diese Frage entscheiden, die allesamt angenehm waren. Dann richtete er den Blick wieder auf Tim. Das Lächeln lag noch auf seinem Mund, aber seine Augen lächelten nicht.
»Wir könnten noch ein bisschen um den heißen Brei herumreden, aber Sie haben heute bestimmt viel zu tun, deshalb werde ich nicht mehr von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen als unbedingt nötig. Lassen Sie mich mit der Versicherung beginnen, dass ich nicht hier bin, um Ihnen irgendwelche Probleme zu bereiten. Sollte es Sie also da hinten nicht nur jucken, können Sie die Waffe stecken lassen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass in diesem Teil der Welt vorläufig genügend Schüsse gefallen sind.«
Tim überlegte, ob er Mr. Smith fragen sollte, wie man ihn ausfindig gemacht habe, aber wozu? Schwer konnte es nicht gewesen sein. Die Catawba Farm gehörte Harry und Rita Gullickson, die jetzt in Florida lebten. Ihre Tochter hatte in den letzten drei Jahren ein Auge auf das alte Haus gehabt. Wer hätte das besser tun können als ein Deputy?
Na gut, sie war Deputy gewesen und bekam immer noch ihr Gehalt, wenigstens vorläufig, aber einen Aufgabenbereich hatte sie eigentlich nicht mehr. Ronnie Gibson, die an dem Abend, an dem Mrs. Sigsby und ihr Stoßtrupp angegriffen hatten, in Urlaub gewesen war, fungierte jetzt als kommissarischer Sheriff von Fairlee County, aber wie lange es dabei bleiben würde, wusste niemand; man sprach davon, die Polizeistation in die nahe Stadt Dunning zu verlegen. Wendy war ohnehin nie so recht als Gesetzeshüterin geeignet gewesen.
»Wo ist Officer Wendy?«, fragte Smith. »Da hinten im Haus vielleicht?«
»Wo ist Stackhouse?«, konterte Tim. »Der hat Ihnen wohl von Officer Wendy erzählt, denn Mrs. Sigsby ist bekanntlich tot.«
Smith zuckte die Achseln, steckte die Hände in die Gesäßtaschen seiner neuen Jeans, wiegte sich vor und zurück und blickte sich um. »Menschenskind, ist das hübsch hier, was?« Das was hörte sich nach wath an, aber es war nur ein ganz leichtes Lispeln und trat zudem nur ab und zu auf.
Tim entschied, die Frage nach Stackhouse fallen zu lassen. Offensichtlich würde er doch keine Antwort bekommen, außerdem war Stackhouse nicht mehr von Interesse. Vielleicht war er in Brasilien, vielleicht auch in Argentinien oder Australien, und vielleicht war er tot. Für Tim hatte das keinerlei Bedeutung. Und der Mann mit dem Lispeln hatte recht; es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden.
»Deputy Gullickson ist in Columbia bei einer nicht öffentlichen Anhörung zu der Schießerei, die im Sommer vorgefallen ist.«
»Ich nehme an, sie hat eine Geschichte parat, die ihr die Leute von der Kommission abkaufen werden.«
Tim hatte kein Interesse daran, diese Annahme zu bestätigen. »Außerdem wird sie an einigen Besprechungen über die Zukunft der Polizeiarbeit hier in Fairlee County teilnehmen, da das bisherige Personal von der Truppe, die Sie geschickt haben, weitgehend ausgelöscht wurde.«
Smith spreizte die Hände. »Damit hatten ich und die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, absolut nichts zu tun. Mrs. Sigsby hat eigenmächtig gehandelt.«
Selbst wenn das stimmt, stimmt es nicht wirklich, hätte Tim entgegnen können. Schließlich hat sie so gehandelt, weil sie Angst vor Ihnen und den Leuten hatte, mit denen Sie zusammenarbeiten.
»Soweit mir bekannt ist, sind George Iles und Helen Simms bereits abgereist«, sagte Mr. Smith. Simms kam als Simmth heraus. »Der junge Mr. Iles zu einem Onkel in Kalifornien, Miss Simms zu ihren Großeltern in Delaware.«
Tim konnte sich zwar nicht erklären, woher der Mann mit dem Lispeln diese Informationen hatte – Norbert Hollister war schon lange fort, am Motel hing ein Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN, das wahrscheinlich lange da hängen bleiben würde–, aber sie trafen zu. Dass man ihn nicht aufspüren würde, hatte er nie erwartet, das wäre naiv gewesen, aber ihm passte gar nicht, wie genau Mr. Smith über die Kinder Bescheid wusste.
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