»Um den auf BDNF. Einen Wachstumsfaktor. Luke hat gesagt, das sei der Indikator.«
»Ja, der ist ein kluger Junge, wohl wahr. Sehr klug. Alle, die Bescheid wissen, wünschen sich jetzt, dass man die Finger von ihm gelassen hätte. Sein BDNF-Spiegel ist nicht mal besonders hoch.«
»Ich kann mir vorstellen, dass Luke sich ebenfalls wünscht, man hätte ihn in Frieden gelassen. Ihn und seine Eltern. Wie wär’s, wenn Sie jetzt weiter Ihr Sprüchlein aufsagen?«
»Na gut. Vor und nach Ende des Zweiten Weltkriegs fanden Konferenzen statt. Falls Sie sich an den Geschichtsunterricht in der Schule erinnern, werden Sie einige davon kennen.«
»Ich weiß von Jalta«, sagte Tim. »Wo Roosevelt, Churchill und Stalin zusammengekommen sind, um praktisch die Welt unter sich aufzuteilen.«
»Ja, das ist die berühmteste Konferenz, aber die bedeutsamste fand in Rio de Janeiro statt, und daran war keine Regierung beteiligt… falls man die Gruppe, die sich dort getroffen hat – und deren Nachfolger im Lauf der Jahre–, nicht als eine Art Schattenregierung bezeichnen möchte. Die Teilnehmer – das heißt wir – wussten von den deutschen Kindern und haben sich darangemacht, weitere zu finden. Im Jahre 1950 wurde uns klar, wie nützlich der BDNF-Test ist. Dann wurden an abgelegenen Orten Institute errichtet, eines nach dem anderen. Die Techniken wurden verfeinert. Damit hat es mehr als siebzig Jahre lang Institute gegeben, und nach unserer Berechnung haben sie die Welt mehr als fünfhundert Mal vor dem nuklearen Holocaust gerettet.«
»Das ist doch lächerlich«, sagte Tim scharf. »Ein Witz.«
»Keineswegs. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Zu dem Zeitpunkt, wo die Kinder in dem Institut in Maine eine Revolte angezettelt haben – die sich wie ein Virus auf alle anderen Institute ausgebreitet hat–, waren sie damit beschäftigt, den Suizid eines Evangelisten namens Paul Westin auszulösen. Dank Luke Ellis ist der Mann nun noch am Leben. In zehn Jahren wird er zum nahen Vertrauten eines christlichen Politikers werden, den man zum amerikanischen Verteidigungsminister ernennen wird. Westin wird diesen Minister davon überzeugen, dass ein Krieg bevorsteht, und der Minister wird den Präsidenten ebenfalls davon überzeugen, was letztlich zu einem präventiven Atomschlag führen wird. Nur mit einer einzigen Rakete, aber das könnte dazu führen, dass sämtliche Dominosteine umfallen. Dieser letzte Aspekt befindet sich allerdings außerhalb unseres Prognosespektrums.«
»So was kann man doch unmöglich vorhersagen.«
»Was meinen Sie wohl, wie wir unsere Zielpersonen auswählen, Mr. Jamieson? Indem wir Zettelchen aus einem Hut ziehen?«
Tim runzelte die Stirn. Darüber hatte er nie nachgedacht.
»Mit Telepathie, nehme ich an«, sagte er schließlich.
Mr. Smith benahm sich wie ein geduldiger Lehrer, der es mit einen begriffsstutzigen Schüler zu tun hatte. »Personen mit TK können Gegenstände bewegen, solche mit TP lesen Gedanken, aber niemand von denen ist in der Lage, die Zukunft vorherzusagen.« Er zog wieder seine Zigarettenpackung aus der Tasche. »Wollen Sie ganz bestimmt keine?«
Tim schüttelte den Kopf.
Smith steckte sich seine Zigarette an. »Kinder wie Luke Ellis und Kalisha Benson sind selten, aber es gibt andere Personen, die noch seltener sind. Sie sind wertvoller als das wertvollste Metall. Und was ist das Beste an ihnen? Ihre Talente nehmen nicht ab, wenn sie älter werden, und sie zerstören ihnen auch nicht das Gehirn, wenn sie sie verwenden.«
Tim nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und drehte sich um. Luke war die Zufahrt entlanggekommen. Ein Stück weiter oben stand Annie Ledoux mit einer aufgeklappten Schrotflinte über dem Arm. Flankiert wurde sie von Kalisha und Nicky. Smith sah noch niemand von ihnen; er blickte in die dunstige Ferne auf die kleine Stadt DuPray und die glitzernden Bahngleise, die durch sie hindurchliefen.
Annie verbrachte jetzt viel Zeit auf der Farm. Sie war fasziniert von den Kindern, und die schienen sich über sie zu freuen. Tim richtete den Zeigefinger auf sie, dann wedelte er mit der Hand: Bleib, wo du bist. Sie nickte, blieb stehen und beobachtete das Ganze. Smith bewunderte immer noch den Blick, der wirklich sehr schön war.
»Sagen wir, es gibt ein weiteres Institut«, fuhr er fort. »Ein sehr kleines und sehr spezielles, wo alles erstklassig und modern ist. Keine Spur von veralteten Computern und maroder Infrastruktur. Es befindet sich an einem absolut sicheren Ort. Andere Institute stehen in Ländern, die wir für feindlich halten, dieses jedoch nicht. Hier gibt es keine Taser, keine Injektionen, keine Strafen. Es ist nicht nötig, die Bewohner dieses speziellen Instituts irgendwelchen Nahtoderfahrungen wie dem Wassertank auszusetzen, um sie dabei zu unterstützen, sich ihren tieferen Fähigkeiten zu öffnen.
Sagen wir, dieses Institut steht in der Schweiz. Vielleicht stimmt das gar nicht, aber bleiben wir mal dabei. Jedenfalls befindet es sich auf neutralem Boden, weil viele Nationen ein Interesse daran haben, dass es aufrechterhalten wird und problemlos operiert. Sehr viele Nationen. An diesem Ort leben momentan sechs sehr spezielle Gäste. Die sind keine Kinder mehr, anders als bei den TPs und TKs in den normalen Instituten wird ihr Talent im Alter von achtzehn bis dreiundzwanzig Jahren nicht schwächer, bis es schließlich verschwindet. Zwei von diesen Personen sind sogar schon ziemlich alt. Ihr BDNF-Spiegel steht nicht im Zusammenhang mit ihrem sehr speziellen Talent. In dieser Hinsicht sind sie einzigartig und daher ausgesprochen schwer aufzufinden. Wir haben immer ständig nach Ersatz gesucht, aber jetzt wurde die Suche eingestellt, weil sie kaum mehr Zweck hat.«
»Was für ein Talent haben diese Leute denn?«
»Präkognition«, sagte Luke.
Erschrocken fuhr Smith herum. »Ach, hallo, Luke!« Er lächelte, wich jedoch zugleich einen Schritt zurück. Ob er wohl Angst hatte? Tim kam es ganz so vor. »Präkognition, genau.«
»Wovon redet ihr da eigentlich?«, fragte Tim.
»Von Leuten, die in die Zukunft blicken können«, sagte Luke.
»Ihr wollt mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«
»Das will ich nicht, und er will das auch nicht«, sagte Smith. »Man könnte diese sechs Personen als unser Frühwarnsystem bezeichnen. Im militärischen Bereich gibt es solche Systeme bekanntlich seit dem Kalten Krieg. Um einen aktuelleren Vergleich zu nehmen, sind es unsere Drohnen, die in die Zukunft fliegen und Orte lokalisieren, wo große Konflikte ihren Ausgang nehmen werden. Wir konzentrieren uns darauf, die wirklich wichtigen abzuwehren. Die Welt hat überlebt, weil wir in der Lage waren, diese proaktiven Maßnahmen zu ergreifen. Zwar sind bei diesem Prozess mehrere Tausend Kinder gestorben, aber dafür wurden Milliarden Kinder gerettet.« Er wandte sich Luke zu und lächelte. »Du hast das natürlich begriffen, es ist ja eine ziemlich simple Schlussfolgerung. Soweit ich weiß, bist du unter anderem ein ziemliches Mathematikgenie und erkennst daher bestimmt das Kosten-Nutzen-Verhältnis. Es gefällt dir vielleicht nicht, aber du erkennst es.«
Inzwischen hatten sich Annie und ihre zwei jungen Begleiter wieder in Bewegung gesetzt, doch diesmal machte Tim sich nicht die Mühe, sie aufzuhalten. Er war zu perplex von dem, was er da hörte.
»Telepathie leuchtet mir einigermaßen ein, Telekinese auch, aber Präkognition? Das ist keine Wissenschaft, das ist ein Taschenspielertrick!«
»Ich versichere Ihnen, dass dem nicht so ist«, sagte Smith. »Schließlich haben unsere präkognitiv veranlagten Mitarbeiter die Zielpersonen gefunden. Eliminiert wurden diese von den TKs und TPs, die zu Gruppen zusammengefasst wurden, um ihre Kräfte zu verstärken.«
»Präkognition gibt es wirklich, Tim«, sagte Luke ruhig. »Dass es darum geht, wusste ich schon, bevor ich aus dem Institut entkommen bin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Avery es auch gewusst hat. Sonst gibt es keine sinnvolle Erklärung. Seit wir hier sind, habe ich viel darüber gelesen, genauer gesagt alles, was ich finden konnte. Die statistischen Fakten sind praktisch unwiderlegbar.«
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