Kalisha und Nicky hatten sich neben Luke gestellt. Neugierig betrachteten sie den blonden Mann, der sich Bill Smith nannte, aber keiner von beiden sagte ein Wort. Hinter ihnen stand Annie. Obwohl es ein warmer Tag war, trug sie ihren Poncho und sah mehr denn je wie eine mexikanische Revolverheldin aus. Ihre Augen waren hell und wach. Die Kinder hatten sie verändert. Das lag wohl nicht an deren Kräften, die langfristig das Gegenteil einer Verbesserung bewirkten. Vielleicht, dachte Tim, lag es einfach an deren Gesellschaft oder daran, dass die Kinder sie so akzeptierten, wie sie war. Auf jeden Fall freute er sich für sie.
»Sehen Sie?«, sagte Smith. »Ihr Hausgenie bestätigt es. Unsere sechs präkognitiv begabten Mitarbeiter – eine Weile waren es acht, in den Siebzigern hatten wir einmal allerdings nur vier, eine sehr kritische Lage – suchen kontinuierlich nach bestimmten Individuen, die wir als Scharniere bezeichnen. Sie sind die Dreh- und Angelpunkte, von denen die Auslöschung der Menschheit abhängen kann. Diese Scharniere führen die Vernichtung nicht selbst durch, sie lösen sie lediglich aus. Westin ist ein solches Scharnier. Sobald wir so jemand entdeckt haben, recherchieren wir seine Lebensumstände, überwachen ihn, machen Videoaufnahmen von ihm. Schließlich überlassen wir ihn den Kindern in den verschiedenen Instituten, die ihn eliminieren, auf die eine oder andere Weise.«
Tim schüttelte den Kopf. »Das glaube ich einfach nicht.«
»Wie Luke richtig gesagt hat, sind die statistischen…«
»Mit Statistiken kann man praktisch alles beweisen. Niemand kann in die Zukunft blicken. Wenn Sie und Ihre Partner das wirklich glauben, dann sind Sie keine rationale Organisation, sondern eine Sekte.«
»Ich hatte eine Tante, die in die Zukunft schauen konnte«, sagte Annie unerwartet. »Als ihre Jungs an ’nem bestimmten Abend in die Disco gehen wollten, hat sie sie davon abgehalten, und tatsächlich gab’s dort eine Gasexplosion. Zwanzig Leute sind verbrannt wie Mäuse in der Falle, aber ihren Jungs ist nix passiert, weil die zu Hause saßen.« Sie runzelte die Stirn. »Außerdem hat sie gewusst, dass Truman zum Präsidenten gewählt wird, und das hat echt niemand geglaubt.«
»Hat sie das mit Trump denn auch vorhergesehen?«, fragte Kalisha.
»Ach, als dieser größenwahnsinnige Armleuchter aus New York aufgekreuzt is, war sie schon lange tot«, sagte Annie, und als Kalisha die flache Hand hob, klatschte Annie sie gekonnt ab.
Smith ignorierte die Unterbrechung. »Die Welt ist nicht untergegangen, Tim. Das ist keine Statistik, sondern eine Tatsache. Siebzig Jahre nachdem Hiroshima und Nagasaki von Atombomben vernichtet wurden, ist die Welt noch nicht untergegangen, obwohl viele Länder über Atomwaffen verfügen, obwohl primitive menschliche Emotionen weiterhin gegenüber dem rationalen Denken dominieren und obwohl als Religion maskierter Aberglaube immer noch den Lauf der Politik bestimmt. Warum ist das so? Weil wir die Welt beschützt haben, und jetzt ist dieser Schutz dahin. Daran ist Luke Ellis schuld, und Sie haben ihn unterstützt.«
Tim sah Luke an. »Glaubst du das, was er da behauptet?«
»Nein«, sagte Luke. »Und er glaubt es selbst nicht, jedenfalls nicht voll und ganz.«
Ohne dass Tim es wusste, dachte Luke an das Mädchen, die ihn bei der Zulassungsprüfung nach einer Mathematikaufgabe gefragt hatte, in der es um die Hotelrechnung eines gewissen Aaron gegangen war. Die Lösung des Mädchens war falsch gewesen, und das hier war auf ähnliche Weise falsch, nur in einem wesentlich größeren Maßstab – eine unzutreffende Lösung, hervorgegangen aus einer fehlerhaften Gleichung.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass du das gerne denken würdest«, sagte Smith.
»Annie hat recht«, sagte Luke. »Es gibt wirklich Leute, die präkognitive Momente haben, und ihre Tante hat wohl dazugehört. Im Gegensatz zu dem, was der Typ da sagt und vielleicht sogar glaubt, sind die nicht mal besonders selten. Wahrscheinlich hast du selbst schon mal so Momente gehabt, Tim, sie aber anders bezeichnet. Als Instinkt zum Beispiel.«
»Oder als Ahnung«, sagte Nicky. »Im Fernsehen haben die Ermittler immer irgendwelche Ahnungen.«
»Das Fernsehen ist nicht das Leben«, sagte Tim, obwohl er sich an etwas aus seiner eigenen Vergangenheit erinnerte – daran, dass er urplötzlich ohne echten Grund beschlossen hatte, ein Flugzeug zu verlassen und per Anhalter nach Norden zu reisen.
»Was echt schade ist«, sagte Kalisha. »Ich bin nämlich ein Riesenfan von Riverdale. «
»Wenn von solchen Dingen die Rede ist, wird oft das Wort Flash verwendet«, sagte Luke. »So kommt es einem nämlich vor, wie ein Aufblitzen. Ich bin mir sicher, dass es so etwas gibt, und ich kann mir vorstellen, dass es Leute gibt, die es sich zunutze machen können.«
Smith hob die Hände zu einer Geste, die na bitte ausdrückte. »Genau, was ich sage.« Nur dass sage sich nach thage anhörte. Das Lispeln war wieder da, was Tim interessant fand.
»Etwas verschweigt er dir allerdings«, sagte Luke. »Wahrscheinlich weil er es sich selbst nicht gerne eingesteht. Das tut keiner von denen. So wie unsere Generale sich selbst dann, als das bereits glasklar war, nicht eingestanden haben, dass man den Vietnamkrieg nicht gewinnen konnte.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du da redest«, sagte Smith.
»O doch«, sagte Kalisha.
»Und ob!«, ergänzte Nicky.
»Geben Sie’s lieber zu, Mister«, sagte Orphan Annie. »Schließlich können die Kinder da Ihre Gedanken lesen. Ganz schön nervig, was?«
Luke sah Tim an. »Sobald ich mir sicher war, dass es um Präkogs ging, und Zugang zu einem richtigen Computer hatte…«
»Er meint einen, für den man keine Wertmünzen braucht«, warf Kalisha ein.
Luke stupste sie in die Seite. »Kannst du mal einen Moment die Klappe halten?«
Nicky grinste. »Pass auf, Sha, Lukey gerät in Rage.«
Sie lachte. Smith tat das nicht. Als Luke und seine Freunde eingetroffen waren, hatte er die Kontrolle über das Gespräch verloren, und sein Gesichtsausdruck – schmaler Mund, gerunzelte Augenbrauen – verriet, dass er das nicht gewohnt war.
»Sobald ich also Zugang zu einem richtigen Computer hatte, habe ich die Bernoulli-Verteilung berechnet«, fuhr Luke fort. »Wissen Sie, was das ist, Mr. Smith?«
Der blonde Mann schüttelte den Kopf.
»Klar weiß er es«, sagte Kalisha mit fröhlichem Blick.
»Genau«, stimmte Nicky zu. »Und er mag sie gar nicht. Diese Dingsbums-Verteilung ist ein Problem für ihn.«
»Die Bernoulli-Verteilung ist eine exakte Methode, die Wahrscheinlichkeit von etwas zu bestimmen«, sagte Luke. »Sie basiert auf der Idee, dass es nur zwei mögliche Ausgänge für bestimmte empirische Ereignisse gibt, zum Beispiel einen Münzwurf oder den Sieger bei einem Footballspiel. Der Ausgang kann mit p für ein positives und mit n für ein negatives Ergebnis bezeichnet werden. Die Details will ich euch ersparen, aber am Ende hat man eine in booleschen Werten ausgedrückte Gleichung, die klar den Unterschied zwischen zufälligen und nicht zufälligen Ereignissen ausdrückt.«
»Genau, langweil uns nicht mit derart leichtem Kram«, sagte Nicky. »Komm einfach zum Punkt.«
»Ein Münzwurf hat ein zufälliges Ergebnis. Das von einem Footballspiel kommt einem zufällig vor, wenn man nur eine kleine Zahl von Spielen nimmt, aber sobald die Zahl größer ist, wird klar, dass es sich nicht um Zufall handelt, weil weitere Faktoren zum Zug kommen. Dann geht es um Wahrscheinlichkeit, und wenn A wahrscheinlicher ist als B, tritt in den meisten Fällen A ein. Das weiß jeder, der einmal eine Sportwette gemacht hat, stimmt’s?«
»Klar«, sagte Tim. »Die Chancen und die Quoten stehen sogar in der Zeitung.«
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