Er sah sich nach Mike um, der ihm zunickte, dass er weitergehen solle. So bewegten sie sich vorwärts, langsam, schweigend, bis sie den Rand des Feldes erreicht hatten. Doug blieb stehen.
Der Postbote tanzte, wie Doug es schon einmal gesehen hatte: wild und in völliger Hingabe, mit rudernden Armen und schwingenden Beinen.
Und der Sprechgesang.
»Weder Regen noch Schnee, Eis oder Hagel ...«
Das Frösteln, das Doug befallen hatte, wurde stärker, je näher sie kamen. Insgesamt waren sie zehn Männer, aber Doug hatte so viel Angst, als müsste er sich dem Postboten allein stellen.
Der Postbote tanzte weiter. Er sah erschreckend mager aus. Im Mondlicht wirkte er geisterhaft und sein Haar künstlich.
»Okay«, flüsterte Mike, der die Männer um sich versammelt hatte. »Wir werden im Halbkreis ausschwärmen. Über den Abhang kann er nicht runter. Er sitzt in der Falle.« Der Polizist blickte Doug an, dann wieder seine Kollegen. »Er ist zwar nicht bewaffnet, ist aber trotzdem brandgefährlich. Wenn er irgendwas versucht, schießt.«
Die Polizisten nickten.
»Los!«
Das Gras und die Büsche raschelten, als die Männer sich verteilten, doch die Geräusche wurden vom Sprechgesang des Postboten überdeckt. Doug, der unbewaffnet war, hielt sich nahe bei Mike. Als der Polizist sah, dass alle auf ihren Plätzen waren, trat er vor. Die anderen folgten ihm.
Der Postbote sah sie, ließ sich in seinem Ritual aber nicht stören. Ohne Pause tanzte er weiter und streckte die Arme zur Mondsichel aus.
»Sie sind verhaftet!«, rief Mike.
Der Postbote lachte schrill und veränderte die Worte seines Sprechgesangs: »Weder Männer noch Frauen noch Kugelhagel werden diesen Postboten von seiner vorbestimmten Runde abhalten.«
Mike bewegte sich langsam vorwärts, Doug an seiner Seite. Der Halbkreis begann sich zu schließen.
Der Postbote tanzte von ihnen weg über den felsigen Boden auf den Rand des Abhangs zu.
»Bleiben Sie stehen«, befahl Mike.
Der Postbote lachte, sprang in die Luft, tanzte, sang. »Weder die Dunkelheit der Nacht ...«
Sie folgten ihm, während er sich immer mehr dem Rand des Abhangs näherte, und schlossen dann den Halbkreis, zogen die Schlinge zu, bis sie fast direkt vor ihm standen.
Erst jetzt hielt der Postbote in seinem Tanz inne. Er schwitzte nicht, atmete nicht einmal schneller. Er grinste Doug an. »Billy ist ein hübscher Junge«, sagte er. »So ein hübscher Junge.«
»Die Hände über den Kopf!«, befahl Mike.
»Wozu, Officer?«
»Die Hände hoch!«
»Sie haben keine Beweise.«
»Wir haben alle Beweise, die wir brauchen.«
Der Postbote lächelte, als er den Blick über die Gesichter der Männer streifen ließ. »Wichser«, sagte er ruhig.
»Die Hände über den Kopf«, wiederholte Mike.
»Wichser«, sagte der Postbote leise. Er ging rückwärts bis an den Rand des Abhangs.
Mike feuerte einen Warnschuss in die Luft. Der Postbote blieb stehen. »Wenn Sie noch eine einzige Bewegung machen, erschieße ich Sie«, rief Mike und richtete die Waffe auf ihn. »Haben Sie verstanden?«
Doug wusste nicht, ob Mike es ernst meinte, aber der Postbote glaubte ihm offenbar, denn er verharrte.
»Tim«, sagte Mike. »Leg ihm Handschellen an.«
Tim nickte und trat vor, die offenen Handschellen in der Hand. »Mister Smith, Sie sind verhaftet wegen ...«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Eine Hand des Postboten zuckte vor, und ehe Hibbard reagieren konnte, griff er sich die Handschellen und riss sie dem Polizisten weg. Tim schnellte vor und langte nach den Handschellen, doch der Postbote machte einen raschen Ausfallschritt und schleuderte Tim mit einem wuchtigen Stoß über die Kante des Abhangs. Ein schriller Schrei des Entsetzens war zu hören, der abrupt abbrach. Doug hörte ein dumpfes Geräusch, als der Körper auf dem Fels aufschlug.
Der Postbote grinste. »Der Nächste?«
Alles war binnen weniger Sekunden geschehen, doch Lieutenant Jack Shipley war schon in Aktion, bewegte sich vorwärts und richtete dabei die Pistole auf Smith. Dessen weiße Hand schnellte vor und griff nach der Waffe.
Jack drückte ab.
Die Kugel traf den Postboten in die Brust. Blut spritzte. Smith taumelte von der Wucht des Schusses rückwärts, doch es gelang ihm noch, die Waffe zu packen. Mit einem schnellen Ruck zog er den Polizisten zu sich. Jack war zu überrascht, um noch reagieren zu können. Der Postbote hielt ihn fest umklammert und fiel über die Kante. Zusammen stürzten sie auf die Felsen darunter. In der Sekunde, ehe Smith abstürzte, glaubte Doug ein Lächeln auf den blutigen Lippen des Mannes zu sehen.
Die anderen liefen zum Abgrund und blickten in die Tiefe, doch unten war alles dunkel. Mehrere Polizisten schalteten ihre Taschenlampen ein.
Die sich überschneidenden Strahlen fanden rasch Jacks zerschmetterten Körper.
Die Strahlen schwenkten kreuz und quer und suchten den felsigen Grund ab, beleuchteten Zentimeter für Zentimeter den Boden um die Stelle herum, wohin Jack gefallen war. Tim lag in der Nähe; seine Arme waren in unmöglichen Winkeln verdreht, sein Schädel auf einem Felsblock aufgeschlagen. Die Lichter verharrten, bewegten sich weiter, rissen Sträucher und Bäume aus der Dunkelheit. Doug sagte nichts, und auch die anderen Männer schwiegen, doch sie alle dachten dasselbe, und sie alle hatten fürchterliche Angst.
Die Lichtstrahlen suchten weiter das Gelände unterhalb des Hügelkamms ab.
Aber da lagen nur zwei Leichen auf dem Boden.
Der Postbote war verschwunden.
Doug saß auf der Veranda und blickte auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht. Er hatte seit Stunden hier gesessen, seitdem er Trish im Krankenhaus zurückgelassen hatte.
Vom Hügel war er zuvor mit Jeff Brickman zurückgekehrt, dem Officer, der sich gemeldet hatte, um zum Revier zurückzufahren und sich um die Kommunikation zu kümmern, während die anderen Männer überlegten, wie sie die Leichen bergen sollten. Jeff Brickman wollte versuchen, zum Büro des County Sheriffs durchzukommen oder zur State Police. Doug hoffte sehr, dass er Erfolg hatte. Im Augenblick befolgten die Polizisten zwar noch Mikes Anweisungen, doch Doug hatte gesehen, wie allmählich alles zerfiel. Als er gegangen war, waren die Männer beinahe schon so weit, Strohhalme zu ziehen, um die Zuständigkeiten zu verteilen. Es machte Doug Angst, wie leicht eine solch gut ausgebildete und gut organisierte Gruppe auseinanderfallen konnte, und er war froh, als er wieder in seinem Bronco saß und nach Hause fuhr.
Nun fragte er sich, was die Polizei wohl gerade machte.
Er überlegte, ob er anrufen sollte, entschied sich aber dagegen.
Er trank den letzten Schluck von seinem fünften Bier und starrte hinauf zu den Sternen. Weit oben zog ein hellerer Himmelskörper in einer geraden Linie von West nach Ost. Ein Satellit. Weiter unten sah er die blinkenden Lichter eines Flugzeugs, ohne es zu hören.
Außerhalb von Willis drehte die Welt sich weiter.
Doug hatte Trish jede halbe Stunde angerufen, und sie hatte ihm jedes Mal versichert, dass alles unverändert sei. Billy schlief immer noch. Der letzte Anruf hatte Trish offensichtlich geweckt, und gereizt hatte sie Doug gebeten, sich nicht mehr zu melden; sie würde ihm Bescheid geben, wenn sich irgendetwas Neues ergab.
Nicht mehr anrufen.
Doug fragte sich, ob sie ihn verantwortlich machte für das, was geschehen war.
Müde lehnte er sich in den weich gepolsterten Stuhl zurück, bereit, sich in den Schlaf gleiten zu lassen, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass die Atmosphäre um ihn sich verändert hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Alarmiert und hellwach richtete er sich auf. Er bemerkte, dass die Grillen verstummt waren. Nicht das leiseste Geräusch war zu vernehmen.
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