Doch, da war ein Geräusch.
Von der Straße, aus Richtung der Nelsons, hörte er das leise Brummen eines Motors, der näher kam.
Doug erstarrte, unfähig, irgendetwas zu tun.
Das Geräusch kam näher und wurde in der Stille immer lauter. Doug wäre am liebsten weggelaufen und hätte sich versteckt. Er wollte ins Haus, die Tür abschließen und die Vorhänge zuziehen, doch er blieb, wo er war.
Und da war er, am Ende der Auffahrt, der rote Wagen des Postboten, der vor dem Briefkasten zum Stehen kam.
Aber Smith war tot! Doug hatte gesehen, wie der Mann erschossen worden war, hatte gesehen, wie er über die Kante des Abhangs gestürzt war. Er war tot.
Doug starrte auf den roten Wagen. Die Scheibe auf der Fahrerseite senkte sich ein Stück, und eine weiße Hand erschien aus dem dunklen Innern, legte einen Brief in den Kasten und winkte dann höhnisch zum Abschied, ehe der Wagen davonfuhr.
Es dauerte einige Augenblicke, bevor die Grillen wieder zu zirpen begannen.
Dougs Herzschlag wurde langsamer. Er blieb auf der Veranda, ohne sich zu rühren. Der Postbote konnte nicht getötet werden. Er würde nicht sterben. Sie konnten nichts tun. Doug betete zu Gott, mit dem er seit Jahrzehnten nicht mehr gesprochen hatte, bekam aber keine Antwort.
Regungslos saß er da.
Er war immer noch wach, als fünf Stunden später im Osten der Morgen dämmerte.
Doug rief im Krankenhaus an, ehe er sich auf den Weg machte. Billy schlief immer noch. Gut. Das würde ihm Zeit verschaffen, rechtzeitig da zu sein. Er wollte an der Seite seines Sohnes sein, wenn dieser aufwachte.
Trish saß mit müden Augen auf ihrem Bett, das neben Billys stand. Sie war angezogen. Ihre Kleidung war verknittert, weil sie in den Sachen geschlafen hatte, und ihr Haar war zerzaust. Doug umarmte sie.
»Du siehst furchtbar aus«, sagte sie.
»Du siehst auch nicht viel besser aus.«
Beide schauten auf Billy. Im Schlaf sah sein Gesicht ausgeruht und völlig normal aus, als wäre nichts mit ihm geschehen und als würde er derselbe sein wie immer, sobald er aufwachte. Aber er würde nicht derselbe sein. Er würde nie wieder derselbe sein.
»Er ist wieder da«, sagte Doug. »Der Postbote. Ich habe ihn letzte Nacht gesehen. Er hat unsere Post gebracht.« Er hatte Trish bereits erzählt, dass der Mann erschossen worden war, hatte ihr aber verschwiegen, dass die Leiche verschwunden war; wider besseres Wissen hatte Doug gehofft, dass er und die Polizisten Smith' Körper in der Nacht einfach nicht gesehen hatten, dass er in irgendeinem Schatten lag oder irgendwohin gekrochen war, um zu sterben.
Trish wurde blass. »Er ist gestorben und zurückgekehrt?«
»Oder er ist gar nicht gestorben«, erwiderte Doug.
Ihre Miene ließ erkennen, wie ihr Mut schierer Angst und Verzweiflung wich. »Das war's dann also.«
Billy streckte sich, gähnte, stöhnte im Schlaf. Doug setzte sich auf die Bettkante und legte eine Hand auf die Stirn seines Sohnes. Er ertappte sich bei der Frage, warum der Postbote Billy und Trish nicht wirklich verletzt hatte. Smith war von Anfang an hinter ihm und seiner Familie her gewesen, doch als er Billy und Trish in seiner Gewalt gehabt hatte, hatte er ihnen praktisch nichts angetan.
Vielleicht konnte er ihnen nichts antun.
Billy fuhr hoch. »Nein!«, schrie er. »Nein!«
Doug packte Billys Schultern und drückte ihn sanft zurück. »Ist schon okay, Billy«, sagte er leise. »Du bist in Sicherheit. Du bist im Krankenhaus. Es ist vorbei. Dir kann nichts geschehen.«
Der Junge sah sich mit wildem Blick um wie ein verängstigtes Kaninchen.
»Wir sind hier. Es ist alles okay.«
Trish kam zu Billys Bett und nahm ihn in die Arme. Sie weinte. »Wir sind hier«, sagte sie. »Alles wird gut.«
Doug spürte die Tränen in seinen Augen, als er die Hand seines Sohnes nahm.
»Mom?«, sagte Billy zögernd. »Dad?«
»Ist alles in Ordnung?« Der Arzt kam ins Zimmer geeilt. Er sah, dass Billy wach war. »Wie fühlst du dich?«
Der Junge blickte ihn benommen an. »Müde.«
»Das liegt an den Beruhigungsmitteln«, erklärte der Arzt Doug und Trish. Er wandte sich wieder an Billy. »Du hast keine Schmerzen, oder?«
Billy schüttelte den Kopf.
»Gut. Dann ist es wahrscheinlich nur der Schock.« Er lächelte Billy an. »Ich möchte später noch ein paar Untersuchungen machen, wenn du dich dazu in der Lage fühlst. Doch erst einmal lasse ich dich mit deiner Mom und deinem Dad allein, okay?«
Billy nickte.
Der Arzt lächelte Trish und Doug zu, reckte den Daumen empor und verließ das Zimmer.
Als Trish, Doug und Billy allein waren, schwiegen sie eine Zeitlang.
»Kannst du dich erinnern, was passiert ist, Billy?«, fragte Doug schließlich mit leiser Stimme.
»Doug!« Trish funkelte ihn wütend an.
»Erinnerst du dich?«
»Lass ihn in Ruhe!«
Billy nickte schweigend.
»Hat er dir wehgetan?«, fragte Doug.
Billy schüttelte den Kopf. »Er konnte mich nicht berühren«, sagte er. Seine Stimme war nur ein brüchiges, geflüstertes Krächzen. »Er wollte es, aber er konnte nicht.«
Dougs Herz schlug schneller. »Was meinst du damit, dass er dich nicht berühren konnte?«
»Er konnte mich nicht berühren.«
»Warum?«
Billy blickte seinen Vater an; dann sah er zur Seite, beschämt, verlegen und unfähig zum Blickkontakt. »Ich weiß es nicht.«
»Denk nach.«
»Doug«, mahnte Trish.
»Er hat versucht, mir Briefe zu geben«, flüsterte Billy. »Er wollte, dass ich sie lese, und er wurde richtig wütend, als ich es nicht getan habe. Er hat gesagt, es wäre eine ... eine Einladung. Ich hab gedacht, er würde mich schlagen, aber es war, als ob ... als könnte er mich gar nicht anfassen. Als würde irgendwas ihn aufhalten. Er hat mich angeschrien und bedroht, aber ich wollte seine Einladung nicht haben. Er ist total ausgeflippt, hat mich aber nicht angefasst.«
»Du hast schreckliche Dinge durchgemacht«, sagte Trish. »Kein Wunder, dass du jetzt glaubst ...«
»Lass Billy reden.« Doug nickte seinem Sohn ermutigend zu. »Sprich weiter.«
»Das war's.«
»Er konnte dich nicht berühren?«
Billy schüttelte den Kopf.
»Was ist mit dem Kleid?«
Billy verbarg sein Gesicht im Kopfkissen. Seine Stimme war gedämpft. »Ich bin müde«, sagte er. »Hör mit den Fragen auf.«
»Was ist mit dem Kleid?«
»Er wollte, dass ich es anziehe.«
Doug strich seinem Sohn sanft übers Haar. »Okay«, sagte er. »Ist gut.« Er starrte auf das Kopfteil des Krankenhausbettes und versuchte sich zu erinnern, ob er jemals gesehen hatte, dass der Postbote jemanden berührt hatte oder nicht. Er hatte nicht.
Mit einem Mal erkannte Doug, weshalb der Postbote niemals mit einem der Morde in Verbindung gebracht werden konnte: Er hatte keinen dieser Morde begangen. Bob Ronda und Bernie hatten sich selbst umgebracht - ebenso wie Irene, Stockley und Hobie in den Selbstmord getrieben worden waren. Und so unvorstellbar es auch sein mochte: Giselle hatte Ellen Ronda mit dem Baseballschläger getötet.
John Smith' einzige Macht war die Post.
Was hatte Howard gesagt? Der Postbote verbrachte den ganzen Sonntag damit, in seinem Zimmer zu hocken? Und wenn er am Montag herauskam, war er müde, so als wäre er krank gewesen? Doug erinnerte sich, wie blass und schwach der Postbote am Tag nach dem vierten Juli gewirkt hatte.
Er musste die Post austragen, um zu überleben.
Trish schob Doug beiseite und strich Billy übers Haar. »Was ist nur los mit dir?«, fragte sie wütend. »Hat er nicht schon genug durchgemacht, auch ohne dass sein Vater ihn dazu bringt, sich noch einmal an alles zu erinnern?«
»Ich habe eine Idee«, sagte Doug. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wie wir den Postboten loswerden.«
Читать дальше