„Tolle Idee“, sagte Dean und stand auf. Er sah Sam an. „Fertig?“
Sam nickte. Aber seine Augen waren auf etwas ganz anderes gerichtet. In einiger Entfernung schoben ein paar Gestalten in Konföderiertenuniform eine Feldkanone auf das Heck eines Ford Bronco zu. Sam blickte sich um und sprach einen der Rollenspieler an, der neben ihm stand.
„Was koppeln die Typen da an ihr Auto an?“
Der Mann kniff die Augen zusammen.
„Sieht aus wie eine Belagerungshaubitze. Eine Kanone mit gezogenem Lauf.“
„Was verschießt sie?“
„Im Krieg? Alles, was man reintut. Kanonenkugeln, Kartätschen, Granaten, selbst Kettenkugeln – das sind zwei Eisenkugeln, die mit einer Kette verbunden sind. Wenn die einschlagen, ist es, als ob der Teufel höchstpersönlich mit seinem behaarten Sack auf dich einprügelt.“ Der Mann klang ein wenig neidisch. „Das ist echt ultrabrutal.“ Er schüttelte den Kopf. „Natürlich wird das Ding da niemals einen Schuss abfeuern.“
„Das ist also ein Nachbau?“
Der Rollenspieler schnaubte.
„Hoffen wir’s! Sonst würden die Jungs sich da mit einem echten Kriegsrelikt aus dem Staub machen. Das ist ein Bundesvergehen – aber das wissen Sie ja wohl selbst am besten, oder?“
Er deutete zurück zum Tatort, wo die Sanitäter die Tragen mit den Leichen aufhoben. „Kann man so was glauben?“
„Das müssen wir wohl“, sagte Sam. „Fahren Sie weg?“
„Bestimmt nicht. Keiner von uns haut ab. Nicht, bis wir herausgefunden haben, wer das war.“ Der Rollenspieler sah Sam mit stählernem Blick tief in die Augen. Er wirkte, als seien er und seine Kameraden wirklich im Krieg.
„Ein paar von denen waren meine Freunde.“
„Sam!“, rief Dean, der schon auf halbem Weg zum Parkplatz war. „Kommst du jetzt, oder was?“
Sam schloss zu seinem Bruder auf. Als er sich noch einmal zum Schlachtfeld umdrehte, hängten die Männer in den grauen Uniformen gerade eine zweite Haubitze hinten an ihren Pick-up.
Als Sam und Dean zurück in die Stadt kamen, drängten sich die Reporter bereits vor dem Büro des Sheriffs. Die nächste Parklücke fand sich zwei Blocks entfernt zwischen zwei Ü-Wagen des Fernsehens. Als Dean mit dem Impala zurücksetzte, um einzuparken, sah er in den Rückspiegel. Auf dem Rücksitz saß Castiel und starrte ihn an. Dean schreckte zusammen und trat reflexartig auf die Bremse.
„Verdammt, Cass, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du das bleiben lassen sollst!“ Sam drehte sich ebenfalls ruckartig um.
„Ihr beide müsst hier verschwinden.“
„Was? Wieso?“
„In dieser Gegend kommt es gerade zu extrem starken Dämonenaktivitäten. Ihr beide solltet so weit weg davon sein, wie es nur geht.“
„Klar“, grollte Dean. „Vor Dämonen weglaufen. Das ist ja genau unser Stil.“
„Du verstehst mich nicht ganz“, entgegnete Castiel. Er beugte sich nach vorne, packte die Sitzlehne so kräftig mit beiden Händen, dass Dean die Federn im Polster quietschen hören konnte. Castiel sprach mit einer Intensität, die jedes Wort wie in kaltes Wasser tauchende Eisenschmelze zischen ließ. „Ich dachte, dass ich herausfinden könnte, wo das Moa’ah hergekommen ist. Aber ihr seid hierher in eine Falle gelockt worden. Der Zeuge ist näher denn je.“
„Judas, oder?“, fragte Sam. „Über den reden wir doch, nicht wahr?“
„Ja“, gab Castiel zu.
„Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?“
Der Engel schüttelte den Kopf.
„Anfangs ergab es einfach keinen Sinn, dass ein so mächtiger Zeuge in so ein einfaches lokales Geplänkel verwickelt sein sollte.“
„Und jetzt ist das anders?“
„Judas ist der Hüter der Schlinge. Er und seine Helfer waren gezwungen, nach Mission’s Ridge zu kommen, weil jemand die Macht der Schlinge aktiviert hat. Und sie sind darüber nicht gerade glücklich.“
„Woher weißt du das alles?“, fragte Sam.
„Das Wissen wurde mir eingegeben …“
„Von …?“
Castiel betrachtete Sam mit absoluter Ernsthaftigkeit.
„Von dem Einzigen, der zu so etwas fähig ist, nehme ich an. Gott selbst.“
„Du weißt schon, Cass, dass Gott einer ganzen Menge verrückter Gestalten befohlen hat, eine ganze Menge verrückter Dinge zu tun. Und ein paar von den Typen sind nicht besonders nett.“
„Das war noch nicht alles.“
„Na super!“
„Du bist nicht der, auf den sie es abgesehen haben.“ Castiel drehte sich um und richtete seine Augen auf Sam. „Wer immer dahintersteckt, er lässt dir keine Wahl, Sam. Sie nutzen die Judasschlinge, um das Kommen der Apokalypse zu beschleunigen. Sie versuchen eine Situation zu erzeugen, in der du keine Wahl mehr hast und dich als Luzifers Gefäß zur Verfügung stellen musst.“
Bevor Sam etwas entgegnen konnte, sprach Dean.
„Aber natürlich hat sich der Allmächtige nicht dazu bequemt, dir zu sagen, wie das ablaufen soll?“, fragte er.
„Nein.“
„Hört sich mehr und mehr nach ihm an.“ Dean sah seinen Bruder an. „Bist du bereit?“
Sam nickte.
„Dean, warte“, sagte der Engel, seine Stimme klang fast wie ein Betteln.
„Sei mir nicht böse, Cass, aber das konnte ich noch nie gut.“
Dean und Sam stiegen aus dem Impala und bahnten sich einen Weg durch die Menge zum Büro des Sheriffs. „Dir ist klar, dass er wahrscheinlich recht hat“, sagte Sam, ohne seinen Bruder anzusehen.
„Hm, hm!“
„Und wir gehen trotzdem rein?“
„Hast du ein Problem damit?“
Sam schüttelte den Kopf.
„Wenn die mich unbedingt haben wollen, kommen sie sowieso.“
„Also schlagen wir zuerst zu“, sagte Dean. „Und zwar kräftig.“
Sie kamen an der Tür des Polizeireviers an und drängten sich durch eine Traube von Reportern und Schaulustigen, die vor dem Eingang warteten. Die Tür war verschlossen.
Dean holte seine Marke hervor und ließ sie laut gegen das Glas klacken. Drinnen blickte der Stellvertreter des Sheriffs zu ihnen auf und dann herunter auf ihre FBI-Marken. Er war ein stämmiger Mann mit einem dicken schwarzen Schnurrbart wie aus einem Cartoon. Er kam herüber und schloss die Tür auf.
„Ist Sheriff Daniels da?“, fragte Dean, als er hineinschlüpfte.
„Ja, aber Sie sollten sie im Moment besser nicht stören.“
„Es ist wichtig“, sagte Dean. Er konnte Daniels bereits auf der anderen Seite des Büros erkennen. Sie hatte den Hörer am Ohr und schrie fast hinein. „Ist mir scheißegal, was die Ihnen erzählen“, rief sie. „Ich will alle vom Schlachtfeld runterhaben. Sofort! Diese Männer kontaminieren meinen Tatort.“
„ Ihren Tatort?“ Dean ging mit schnellen Schritten auf sie zu und starrte sie an, bis sie gezwungen war, aufzusehen und seiner Anwesenheit Aufmerksamkeit zu schenken. Dann drehte sie sich einfach wieder um und suchte etwas anderes, auf das sie sich konzentrieren konnte. Dean bewegte sich mit ihr und hielt Augenkontakt. Sie starrte wütend zurück und beendete endlich das Gespräch, indem sie den Hörer aufknallte.
„Was wollen Sie?“, fragte sie.
„Wo ist die Schlinge?“
„Die was ?“
„Phil Oiler hatte ein Seil um den Hals, als er letzte Nacht starb, und jetzt ist es weg. Bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes waren Sie alleine am Tatort. Sie haben uns die ganze Zeit Informationen vorenthalten. Also, wo ist die Schlinge? “
Daniels’ Gesicht wurde kalkweiß bis auf zwei rote Flecken, die sich auf ihren Wangen zeigten. Sie kniff die Lippen zusammen, und Dean konnte sehen, wie ein kleines Blutgefäß an ihrer Schläfe zu pochen begann.
„Raus aus meinem Büro!“, knirschte sie.
„Noch nicht.“ Dean bewegte sich nicht.
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