»Solange du glaubst, du wirst es können«, sagte er, »gibt es keinen Grund, dass es nicht auch so kommen wird.«
»Ich glaube, dass ich es kann«, sagte ich endlich mit etwas mehr Bestimmtheit.
Joe klopfte mir auf die Schulter. »Das ist alles, was ich hören wollte«, sagte er. »Jetzt will ich dich nur noch eines fragen.«
Wir gingen wieder zum Tisch, und ich spürte ein unsichtbares Band zwischen uns, das vorher nicht da gewesen war. Es gab mir Sicherheit und bewirkte, dass ich beim Gehen den Kopf hoch und den Rücken gerade hielt. Er setzte sich auf den einen Stuhl, ich auf einen anderen. Aus seinem Ranzen nahm er den Schnaps und zwei Gläser. Er goss gleich viel in jedes Glas und reichte mir eins.
»Trink.«
Ich musste lachen. »Ich hab mal gedacht, es könnte vergiftet sein«, gestand ich.
Joe sah mich belustigt an, als ich von dem Schnaps nippte. Das brennende Getränk wärmte mir die Kehle, ich musste husten. Wieder fuhr Joe mit der Hand in seine Tasche und kramte Tinte und Feder heraus. Automatisch griff ich danach, aber er hielt die Sachen zurück.
»Ich schreibe«, sagte er.
Ich war irritiert. »Aber wer soll uns denn hier sein Geheimnis erzählen?«
Joe, der noch immer mein Buch in der Hand hatte, schlug die erste Seite auf.
»Du, Ludlow«, sagte er. »Die erste Geschichte in deinem ersten Schwarzen Buch wird deine eigene sein.« Er blickte mir in die Augen: Da erfüllte ein Gesang wie von Engeln meinen Kopf, und weil ich das Gefühl hatte, ich würde plötzlich auf und davon schweben, wollte ich ihm alles erzählen.
»Es ist an der Zeit, dass du dein Geheimnis preisgibst.«
Kapitel 42

Auszug aus dem
Schwarzen Buch der Geheimnisse
Ludlows Geständnis
Mein Name ist Ludlow Fitch und ich muss ein beschämendes Geständnis machen. Ich habe es schon mit nach Pagus Parvus gebracht und nun sogar bis hierher in diese tiefe unterirdische Bibliothek der Geheimnisse. Obwohl ich Angst habe, dass Ihr danach schlecht von mir denkt, will ich es Euch erzählen, denn ich kann die Last nicht mehr tragen.
Ihr wisst, woher ich komme, Ihr wisst, was für ein Leben ich in der Stadt geführt habe. Ich bin nicht stolz auf meine Vergangenheit, aber ich verleugne sie auch nicht. Was ich getan habe, musste ich tun, um zu überleben.
Als der Alkohol Ma und Pa immer fester in den Griff nahm, erkannte ich, dass sie in ihrer Jagd nach Branntwein vor kaum etwas haltmachen würden. Dass ich aber in ihrem selbstsüchtigen Spiel zu einer bloßen Marionette werden sollte, damit hatte ich nicht gerechnet. Stellt Euch meine Verblüffung vor, als ich eines Abends nach Hause kam und feststellen musste, dass sie mir aufgelauert hatten. Ich hatte kaum meinen Fuß in die Dachkammer gesetzt, die wir unser Zuhause nannten, da schlug mir Ma ein Stuhlbein über den Schädel, und ich ging krachend zu Boden. Sie packten mich an den Füßen, schleiften mich die Treppe hinunter und ließen dabei meinen Kopf auf jeder einzelnen Stufe aufschlagen – ich war mehr tot als lebendig. Unten schwang mich Pa über die Schulter, und der pochende Schmerz in meinem Schädel wurde noch stärker. Ich weiß nicht, wie lange wir gingen; irgendwann verlor ich die Orientierung über all die Kurven und Abzweigungen, und die Straßennamen konnte ich in meiner angeschlagenen Verfassung nicht lesen. Ich spürte, dass wir in der Nähe des Foedus waren, sein aufdringlicher Gestank stieg mir in die Nase, und vielleicht habe ich ausgerechnet ihm dafür zu danken, dass ich so lange nicht ohnmächtig wurde. Schließlich aber musste ich vor dem scheußlichen Pochen in meinem Hirn kapitulieren: Ich verlor das Bewusstsein. Als ich die Augen wieder aufschlug, befand ich mich in dem geheimen Kellerraum von Barton Gumbroot.
Noch jetzt denke ich mit Schaudern daran, was er mit mir vorhatte. Ich konnte zum Glück fliehen, aber schon damals ahnte ich, dass mein Leben nie wieder so sein würde wie zuvor. Zu dritt verfolgten sie mich bis an den Fluss. Ich sah die Brücke vor mir aufragen, und da dachte ich, wenn ich bis dorthin komme, finde ich vielleicht Hilfe in einer der Kneipen. Aber ich merkte bald, dass ich das Tempo nicht halten konnte, ich war außer Atem, und sehen konnte ich auch nicht richtig. Zu meinem Entsetzen dauerte es nicht lange, bis Pa mich erwischte.
Er packte mich an der Schulter und riss mich herum. Wir fielen beide in den Uferschlamm, er stürzte sich auf mich und drückte mir die Hände um den Hals. Seine Gier nach Geld, nach Alkohol verlieh ihm übermenschliche Kraft, aber meine Gier nach Leben war noch größer. Ich griff nach seinen Armen, stemmte sie auseinander und rammte ihm gleichzeitig ein Knie in den Bauch. Er fiel zur Seite und rollte auf den Rücken – der Spieß hatte sich umgedreht. Jetzt saß ich auf seiner Brust und drückte ihm die Arme über dem Kopf zu Boden.
Ich blickte in sein grausames Gesicht und sah nichts darin, was mich hätte bremsen können. Ich schloss meine Hände um seinen mageren Hals und drückte zu, bis sein Gesicht blau anlief und die Augäpfel langsam hervortraten. Er krümmte sich, trat um sich und versuchte, meine Hände wegzureißen. Sprechen konnte er nicht, aber seine Augen bettelten um Gnade, und über diesen flehenden Blick konnte ich mich nicht einfach so hinwegsetzen. Wie er auch sein mochte, er war trotzdem mein Vater. Mit einem Schrei ließ ich los, blieb aber über ihm stehen. Hustend und röchelnd rang er nach Atem.
»Warum hast du das getan?«, fragte ich keuchend.
»Es tut mir leid, Sohn«, krächzte er reumütig, und ich Narr glaubte es. Inzwischen kamen Ma und Barton näher, ich konnte sie schon hören. Ich drehte mich kurz um, kaum eine Sekunde lang, da sprang Pa auf die Füße und schlang mit eisernem Griff seine Arme um meinen Hals. Ich stieß mit den Ellbogen auf ihn ein, um seinen Griff zu lockern, und dann … Dann schubste ich ihn, so fest ich konnte, und er stolperte rückwärts die steile Uferböschung hinunter.
»Nein!«, schrie er. »Neiiiin!« Er landete mit dem Rücken im dunklen Wasser des Foedus. Ungläubig sah ich, wie ihn der Fluss innerhalb von Sekunden in die Tiefe riss. Ich konnte unter der Oberfläche noch sein weißes Gesicht sehen, den aufgerissenen Mund, aus dem Blasen kamen, und dann war er verschwunden. »Pa«, flüsterte ich, und einen Augenblick war ich starr vor Schreck. Als ich meine fünf Sinne wieder beisammenhatte, taumelte ich auf die Brücke, wo ich in diesem Moment Jeremiahs Kutsche losfahren sah. Mit letzter Anstrengung schaffte ich es, hinten aufzuspringen. Wir wurden allmählich schneller, doch immer noch konnte ich Ma sehen. Sie schrie und tobte, und Barton drohte mir fluchend mit der Faust.
Ich habe meinen eigenen Vater umgebracht, Joe. Das hat er gewiss nicht verdient, egal was er mir angetan hat. Ich hätte ihn retten können. Ich hätte die Böschung hinunterklettern und ihn aus dem Wasser ziehen können. Ich kann mir meine Tat nicht verzeihen. Jede Nacht träume ich davon, und dann sehe ich jedes Mal sein Gesicht aus dem Wasser zu mir heraufschauen.

Joe legte die Feder weg, schob einen Bogen Löschpapier zwischen die Seiten und klappte das Buch zu.
Ludlow liefen Tränen über die Wangen.
»Ein gemeiner Mörder bin ich«, schluchzte er. »Warum solltet Ihr mich zu Euch nehmen?«
»Ludlow«, sagte Joe behutsam, »es war nicht deine Absicht, deinen Vater umzubringen. Hättest du’s von Anfang an vorgehabt, hättest du ihn erdrosselt, als die Gelegenheit da war; stattdessen hast du Mitleid mit ihm gehabt. Du weißt nicht einmal sicher, ob er tot ist.«
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