Mir wurde das Herz schwer, ich spürte, dass ich puterrot wurde, und schlug die Hände vors Gesicht. »Ihr habt es gewusst!«
Joe grinste. »Natürlich habe ich es gewusst. Es war ja deutlich in deinem Gesicht zu lesen, als ich zurückkam.«
»Seid Ihr denn nicht böse?«
»Damals schon. Mehr auf dich als auf Polly. Aber wenigstens habt ihr auf den ersten Seiten angefangen.«
»Weiter hätten wir auch nicht gelesen«, sagte ich. »Wir hatten ein scheußliches Gefühl hinterher.«
»Dann bin ich ja froh«, sagte Joe lachend. »Das solltet ihr auch. Es wäre nicht schwer gewesen, dir ein Geständnis zu entlocken, aber ich fand es richtig, dich eine Weile mit deinem schlechten Gewissen allein zu lassen. Und das Buch unter deinem Kissen, nun, ich war überzeugt, es war Strafe genug, dass du es jede Nacht spüren musstest. Wie ich schon einmal gesagt habe: ›Quae nocent docent.‹ «
Das waren die lateinischen Worte am Ende der Geschichte des Sargmachers.
»Es bedeutet: ›Aus Fehlern wird man klug.‹«
Jetzt fühlte ich mich noch schlechter. »Was ist also in dieser kleinen Stadt passiert?«, drängte ich, gespannt darauf, alles zu erfahren.
»Nach ein paar Wochen kam ich dahinter, dass der ortsansässige Arzt seine Patienten gezielt vergiftete und ihr Hab und Gut an sich brachte. Als er starb, belohnten mich die Einwohner mit einem üppigen Anteil aus seinem zusammengestohlenen Reichtum. Und dann zog ich weiter.«
»Aber wie ist er gestorben?«
»Nicht durch meine Hand, das schwöre ich.«
»Wie dann? Wieder durch vergiftete Pastete?«
Joe lachte. »Nein, es war ein Unfall, das versichere ich dir. Aber wir wollen das Thema nicht vertiefen. Es gibt Wichtigeres zu tun. Komm mit.«
Joe nahm seinen Ranzen und ging quer durch die Höhle zur gegenüberliegenden Wand, in der ich erst jetzt den Eingang eines Tunnels bemerkte. Ich zögerte, als ich vor der Öffnung stand, sie war schmal und dunkel, aber Joe war schon hindurchgegangen. Da nahm ich eine Fackel von der Wand und lief hinter ihm her.
Kapitel 41

Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
Der Weg durch den felsigen Tunnel wurde immer enger. Bald konnte Joe nicht mehr aufrecht stehen und ich nicht mehr neben ihm gehen. Je tiefer wir kamen, desto drückender und stickiger wurde es, so als hätte es hier seit Jahren keine Luftbewegung gegeben. Das Licht der Fackel schrumpfte zu einem bernsteingelben Schimmer, und ich hatte Angst, es könnte ganz verlöschen. Ich spürte und hörte Lebewesen an mir vorbeifliegen, Fledermäuse vielleicht, aber ich sah sie nie, sondern fühlte nur etwas über meine Wangen streichen oder durch mein Haar huschen.
»Keine Angst, Ludlow!«, rief Joe über die Schulter. »Dir wird nichts passieren.«
Jetzt ging es bergab. Erst nur wenig, aber bald wurde der Gang noch abschüssiger, und ich musste mich an den Seitenwänden abstützen, um nicht hinzufallen. Ständig stieg der Luftdruck, und ein dumpfer Schmerz war in meinen Ohren. Als ich schon glaubte, es nicht länger zu ertragen, wurde der Boden eben, der Tunnel weitete sich, und die Decke wurde wieder so hoch, dass wir uns aufrichten konnten. Vor mir sah ich Joe, eingerahmt von einem Torbogen, in dessen gelblichem Lichtschein sich die Silhouette seiner schlanken Gestalt abzeichnete. Kaum war ich bei ihm, legte er mir die Hand über die Augen und führte mich so die letzten Meter weiter. Ich spürte, dass wir den Tunnel verließen, weil die Luft sofort frischer und kühler wurde. Sie war erfüllt von hohen Heul-und Klagelauten und tiefem Dröhnen und Grollen, das immer wieder anschwoll und verhallte. Mir pochte das Herz in den Ohren.
»Lasst mich sehen«, flüsterte ich, »lasst mich doch sehen.«
Als Joe die Hände von meinen Augen nahm, glaubte ich mich in einem Traum. Es war, als sei ich aus der Realität in eine Welt eingetreten, die nur in der Vorstellung existierte – denn wie konnte das sein? Wir standen wie winzige Insekten in einer weiten Halle mit einem gewölbten Dach, vielleicht dreißig Meter über uns. Riesige geriffelte Säulen, dicker als uralte Baumstämme, ragten in die Höhe und stützten die Kupferdecke. Licht kam aus flachen Schalen mit brennendem Öl, die auf schlanken weißen, silbern schillernden Marmorpfeilern standen. Die Wände waren dunkel, nicht aus Stein, sondern aus einem Material, das ich nicht bestimmen konnte. Der Boden, ein Meisterstück an handwerklichem Geschick, bestand aus lauter farbigen, in die Erde eingelassenen Steinchen.
Ich schaute und schaute. Ich glaube, ich brachte den Mund nicht zu vor Staunen. Während ich den Blick durch die unermessliche Halle wandern ließ, hatte ich das Gefühl, als würde ich zum ersten Mal richtig sehen. Ich konnte gar nicht alles fassen. Meine Augen wanderten von einer Seite zur anderen, und mit jedem Blinzeln sah ich etwas Neues. In die Säulen, auf den ersten Blick glatt, waren in Wirklichkeit komplizierte Muster gemeißelt. Zierliche Ranken wanden sich spiralförmig daran empor, und zwischen den Blättern blickten Augenpaare hindurch. Sie sahen so echt aus, dass ich fast erwartete, sie würden blinzeln. Der Fußboden bestand bei näherem Hinsehen aus zahllosen Bildern, jedes eine eigenständige Szene von seltener Schönheit. Dazwischen erkannte ich Ungeheuer und Engel, Feen und Kobolde, geschuppte Kreaturen des Meeres und der Luft, manche scheußlich, manche verführerisch, alle atemberaubend.
Mein Blick fiel auf den Bodenabschnitt zu meinen Füßen, direkt am Eingang der prunkvollen Halle. Ich stand am Rand eines hellen Mosaiks, das drei Gestalten darstellte: Eine saß an einem Spinnrad, eine zweite hielt ein Metermaß an den gesponnenen Faden und die dritte stand mit einer glänzenden Schere über ihr. Ihre Gesichter wirkten verhärmt und sie schienen zu streiten.
»Wer sind diese Hexen?«, fragte ich, denn es waren wirklich hässliche Gestalten. Meine Worte kamen als Echo von den Wänden zurück: »…exen …exen …exen …«
»Es sind die drei Parzen«, sagte Joe. »Die eine spinnt den Lebensfaden, die andere misst ihn ab und die dritte schneidet ihn mit ihrer Schere durch. Sie streiten sich immerzu, welche von ihnen die wichtigste sei.«
»Die mit der Schere?«, wagte ich zu sagen.
Joe lächelte. »Gewiss gilt sie als die Bedrohlichste, aber der Streit der Schwestern ist nicht zu schlichten, denn keine kann ohne die andere existieren.«
»Die drei Schicksalsschwestern«, murmelte ich. »Warum die hier wohl abgebildet sind?«
Ich ging ein Stück weiter in die Halle hinein und erkannte staunend, dass die schwarzen Wände gar keine Wände waren, sondern unbeschriftete Rücken von Büchern, die dicht nebeneinander auf Regalen bis unter die Decke standen.
»Nimm eins«, sagte Joe.
Also lief ich hin und nahm ein Buch aus einem der Regale – es ging nur mühsam, weil es so fest zwischen den danebenstehenden Büchern eingeklemmt war. Kaum hatte ich es in der Hand, wusste ich, was es war. Auf dem Einband standen die gleichen goldenen Worte:
Verba Volant Scripta Manent
»Großer Gott«, staunte ich. »Ist das etwa ein Buch der Geheimnisse?«
Joe nickte. Ich öffnete es vorsichtig, denn es war uralt und seine Seiten zerbröselten schon fast zu Staub. Ich versuchte, die unbekannte Schrift zu entziffern. Jede Seite war von oben bis unten beschrieben, jede berichtete unersetzliche Geschichten von längst gestorbenen Menschen. Ich schloss das Buch und trat einen Schritt zurück. Joe beobachtete mich gespannt. Konnte es sein, dass …?
»Sind das alles Bücher der Geheimnisse?«
»Ja. Jedes einzelne. Aus jedem Winkel der Welt.«
Es mussten Tausende sein. Und in jedem Buch vielleicht fünfzig, hundert Geheimnisse oder mehr. Ich konnte nicht annähernd erfassen, was das bedeutete. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Sprache wiederfand. »Wer hat sie hierhergebracht?«
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