Pin hielt das Medaillon hoch und im Mondlicht waren deutlich die Initialen J C zu erkennen.
»Die Initialen meiner Mutter«, sagte er. »Jocelyn Carpue.«
Juno sah ihm offen ins Gesicht. »Oder Juno Catchpole.« Ihre Stimme war kalt und leise.
Pin lachte spöttisch. »Du heißt Juno Pantagus. Benedict ist dein Onkel.« Aber schon während er das sagte, stockte seine Stimme. Plötzlich war er nicht mehr so sicher.
»Benedict ist nicht mein Onkel«, sagte sie ruhig. »Das sagen wir nur so. Es hört sich besser an, wenn wir verwandt sind. Unsere ›Magie‹ ist ja immerhin ererbt.«
Pin wankte und ließ sich zu Boden sinken, den Kopf in den Händen vergraben. »Oh Juno, es tut mir so leid. Ich hätte dir trauen müssen. Aber was sollte ich denn auch von alldem halten? Meine Mutter ist mit einem silbernen Medaillon begraben worden, ihrem letzten Schmuckstück.« Verzweifelt sah er zu ihr auf. »Warum bist du dann hier? Wonach gräbst du?«
»Pin«, sagte Juno langsam. »Ich muss dir die Wahrheit sagen.«
»Die Wahrheit? Was meinst du? Ich weiß doch jetzt alles. Aber gib mir noch eine Chance. Wir können trotzdem miteinander weggehen. Du kannst dann die Rolle des Leichenmagiers übernehmen und ich bin dein Assistent …«
»Halt«, befahl Juno und Pin verstummte. »Ich nehme dich gern mit, klar, aber vorher musst du etwas wissen. Ich bin hierhergekommen, weil ich etwas an seinen Platz zurücklegen wollte. Ich weiß, das war dumm, idiotisch, aber ich musste es einfach versuchen. Sonst könnte ich keine Sekunde mehr ruhig schlafen.« Sie hob den braunen Sack auf und reichte ihn Pin.
»Das ist dein rechtmäßiges Eigentum.«
Langsam und mit zitternden Händen nahm Pin den Sack, kniete nieder, zog die Schnur auseinander und leerte ihn aus. Ein Haufen trockener Knochen purzelten vor ihm auf die gefrorene Erde. Aber er begriff immer noch nicht. Zuletzt rollte noch etwas heraus und blieb neben seinen Füßen liegen, ein bräunlicher Schädel mit fisseligem Haar.
»Madame de Bona?«, flüsterte er.
»Nein«, sagte Juno. »Deine Mutter.«
Kapitel 39

Juno erzählt
Tief bestürzt sah Pin auf. Sein Magen geriet ins Schlingern. Er meinte, sich übergeben zu müssen.
»Meine Mutter? Aber wie kann …?«
»Ich will es dir erzählen …«

»Meine Mutter ist gestorben, als ich noch sehr klein war. Ich habe keine Erinnerung an sie; mein Vater war es, der mich großgezogen hat. Er war Arzt in einer Stadt, nicht weit von hier. Er machte seine Arbeit gut und erklärte mir alles, was er wusste. Dass in Kräutern und Gewürzen Heilkräfte stecken. Wie man Salben und stärkende Mittel herstellt, wie man schröpft und Blutegel anwendet. Er zeigte mir auch, wie man die Credo-Mischung zusammenstellt, dasselbe Mittel, das ich für die Totenerweckungen benutze. Du hast recht mit deiner Vermutung, dass dies der Schlüssel ist. Es ist nämlich ein bewusstseinsveränderndes Mittel. Es bewirkt, dass man sieht, was man gern sehen möchte. Man muss sich nur auf das, was man sich wünscht, konzentrieren, und wenn man dabei das Mittel einatmet, glaubt man seinen Wunschtraum tatsächlich zu erleben. Nur kurz allerdings, aber doch lange genug. All die Leute, die zu Madame de Bona gekommen sind, wollten im Grunde ihres Herzens gern glauben, dass dieses Skelett in der Lage wäre, wieder zum Leben zu erwachen. Und weil sie sich das wünschten, wurde es für sie Wirklichkeit. Na ja, und ihre Fragen, auf die kannten sie ja vorher schon die Antworten, die sie sich erhofften. Aber man hört sie eben gern von jemand anderem, sogar, wenn es ein Skelett ist. Du hast auch recht mit der Wacholdersalbe in dem Medaillon. Sie schützt vor dem Credo-Mittel.
Meinem Vater und mir ging es jedenfalls gut. Die Leute waren ihm dankbar, dass er ihre Krankheiten heilte, und bezahlten ihn anständig. Manche hinterließen ihm sogar nach ihrem Tod Geld. Aber dann kam irgendwann das Gerücht auf, er sei gierig und raffsüchtig geworden, er würde sogar Leute wegen ihres Geldes töten. Und es dauerte nicht lange, da wurde er heimtückisch umgebracht.
Danach hat sich für mich natürlich alles geändert. Die Leute fingen an zu tuscheln, dass ich bei den finsteren Plänen meines Vaters wahrscheinlich die Hand im Spiel gehabt habe, und für mich wurde das Leben unerträglich. Du weißt ja, wie das ist, wenn man als Verbrecher behandelt wird, obwohl man unschuldig ist. Mir ist es ähnlich ergangen wie dir. Am Ende habe ich die Stadt verlassen und bin nach Urbs Umida. Ich habe schnell gemerkt, dass es eine triste und gemeine Stadt ist, damals ging es mir nicht sehr gut. Nachts habe ich mir auf dem Friedhof einen Unterschlupf gesucht. Dort fühlte ich mich sicher. Taschendiebe und Betrüger betreiben ihr Gewerbe eher unter den Lebenden als unter den Toten. Und Grab- oder Leichenräuber waren zu beschäftigt, als dass sie ein armes Mädchen beachtet hätten, das einfach nur schlafen wollte. Als ich Benedict zum ersten Mal sah, hielt ich ihn auch für einen dieser Kerle. Ich begegnete ihm gegen Ende letzten Sommers, als er gerade die Erde von einem Grab schaufelte.«
»Von dem meiner Mutter?«, fragte Pin leise, und Juno nickte.
»›Falls du eine Leiche suchst, bist du hier verkehrt‹«, sagte ich zu ihm. ›Die Tote liegt schon ein halbes Jahr hier. Da sind nur noch Knochen drin.‹
›Genau die suche ich‹, sagte er.
›Knochen? Wofür suchst du Knochen?‹
Er stand auf und musterte mich. Da sah ich, dass er schon alt war, zu alt zum Graben.
›Du machst den Eindruck, als wärst du ein kräftiges Mädchen‹, sagte er. ›Hilf mir mal. Sonst hol ich mir hier den Tod.‹
Ich rührte mich nicht. Und er verstand genau. Wir einigten uns also auf einen Shilling und ich nahm den Spaten. Es ging nicht besonders schwer. Der Boden war nach einem Regen weich, die Erde locker, und außerdem hatte er den größten Teil der Arbeit schon getan. Nicht lange, und ich hatte den Sarg freigelegt. Und ich behielt recht: nur Knochen. Aber Benedict schien zufrieden.«
»Und ihr Medaillon?«, fragte Pin plötzlich.
»Da war nichts, glaub mir«, sagte Juno sanft. »Ich schwöre. Vielleicht war das Grab schon ausgeraubt worden. Der Sargdeckel war nicht mehr angenagelt.« Sie sah Pin an. »Wird’s dir zu viel? Soll ich aufhören?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich will alles wissen.«
»Benedict verstaute die Knochen im Sack und wollte gehen. Ich war neugierig geworden und fragte ihn, was er damit vorhabe. Da erklärte er, dass er sich etwas ausgedacht habe, wie er ein bisschen Geld verdienen könnte. Er wollte mit dem Skelett umherziehen und die Tote als eine Art Wahrsagerin benutzen, die in die Zukunft sehen könne.
›Und wie soll sie das anstellen?‹, fragte ich. ›Sie ist tot.‹
›Ich dachte, das könnte ich vielleicht irgendwie mit meiner Stimme machen‹, antwortete er.
Ich lachte. Ich fand den ganzen Plan blödsinnig, er würde nie funktionieren, und das sagte ich ihm auch.
Benedict geriet ein bisschen aus dem Konzept. ›Hast du etwa eine bessere Idee?‹
›Ja, habe ich‹, erwiderte ich und erzählte ihm von meinem Credo-Mittel. Ich war überzeugt, wir würden es zu unserem Vorteil einsetzen können. Und dann entwickelten wir gemeinsam unseren Plan. Er würde die Rolle des Leichenmagiers spielen und ich würde das Mittel herstellen und die Stimmen übernehmen. Das war der Grund, weshalb ich immer diese lange Kapuze auf dem Kopf hatte. Die Leute sollten nicht sehen, dass Madame de Bonas Stimme in Wirklichkeit meine war. Mich hat ohnehin nie jemand angeschaut. Wir verließen die Stadt und zogen durch das ganze Land. Das kam mir nur gelegen. Wir verdienten Geld, besonders mit den privaten Totenerweckungen, und während wir so von Ort zu Ort reisten, erkundigte ich mich überall nach dem Mann, der meinen Vater ermordet hat. Zwei oder drei Mal waren wir ihm schon ganz nahe gewesen, doch leider kamen wir immer zu spät.«
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