Schließlich schritt Benedict ein. »Bitte, meine Herrn«, sagte er fest, »ich muss Euch bitten, dieses Verhalten zu unterlassen. So geht das nicht …«
»Zurück, Alter!«, sagte der erste Sohn, während er nach dem Jackenkragen seines Vaters griff und noch einmal fordernd rief: »Sag schon, wo’s ist!«
Aber der Tote schwieg hartnäckig.
»Warum will er es uns nicht sagen?«, fragte die Mutter, und ihr Ton klang merkwürdig drohend für ein so gebrechlich wirkendes Wesen. Sie trat einen Schritt auf Benedict zu und richtete vorwurfsvoll den Finger auf ihn. »Habt Ihr nicht gesagt, Tote müssen die Wahrheit sprechen?«
»Ja, ich weiß«, sagte Benedict. »Aber so darf man nicht mit ihnen umgehen. Die Toten muss man achten.«
»Die Toten achten?«, kreischte sie. »Hier liegt irgendwo ein Vermögen in Goldstücken versteckt, und dieser geizige Schuft ist gestorben, ohne uns zu sagen, wo! Und das ist alles, was Ihr dazu sagen könnt?«
Inzwischen galt Benedicts Sorge weniger dem Toten als den Lebenden, speziell sich selbst und Juno, die ihn nachdrücklich am Arm zog.
»Komm, wir gehen«, drängte sie flüsternd. »Sofort!«
Ich beobachtete mit zunehmendem Schrecken, wie die beiden aus dem Zimmer eilten.
»Durchtriebenes Südstadtpack!«, schrie die Mutter und rannte hinter ihnen her zur Tür. »Ich wusste gleich, dass man euch nicht trauen kann. Glaubt bloß nicht, dafür werdet ihr auch noch bezahlt! Wir könnten euch wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen verklagen!«
Wie gern hätte ich mich ebenfalls davongemacht! Stattdessen lag ich halb tot vor Angst in dieser Truhe. Die beiden Söhne hatten anscheinend begriffen, dass sie auch durch noch so heftiges Schütteln nichts über das Goldversteck in Erfahrung bringen würden. Sie traten zurück und fingen über ihren zerzausten Vater hinweg zu streiten an.
»Wusste ja gleich, dass es nicht funktionieren würde!«
»Aber es war doch deine Idee!«
»Was!«
Wie zu erwarten, kam es nun zu Handgreiflichkeiten, und ich konnte weiter nichts tun als abwarten. Die Brüder prügelten sich eine Ewigkeit, so kam es mir zumindest vor. Einmal kullerten sie gegen die Truhe und schoben sie dadurch weiter nach hinten. Sie waren unfaire Kämpfer, zogen sich gegenseitig an den Haaren, verteilten Schläge unter die Gürtellinie und schüttelten einander auf übelste Weise. Als ich schon dachte, jetzt käme es gleich zu Blutvergießen, zog ihre Mutter sie endlich auseinander und verpasste dabei jedem eine schallende Ohrfeige. Schließlich verließ das Trio unverrichteter Dinge den Raum.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch in dieser Truhe liegen blieb, wie gelähmt vor Angst, sie könnten zurückkommen. Als ich endlich den Mut aufbrachte, mein Versteck zu verlassen, schoss ich die Treppe hinauf wie ein Stein aus einer Schleuder und rannte, bis ich in der Squid’s Gate Alley war. Ich war maßlos enttäuscht von dem ganzen Unterfangen und bei der Lösung des Rätsels hatte es mich um keinen Schritt weitergebracht.
Kapitel 30

Mit seinen Wünschen muss man sorgsam umgehen
Gleich am nächsten Abend stand Pin wieder vor Junos Tür.
Von draußen trug der Wind das Gelächter der Leute auf dem zugefrorenen Foedus herein. Wenigstens einen Vorteil hat die Sache, dachte Pin trübsinnig. Wenn der Fluss zugefroren ist, haben wir nicht unter seinem Gestank zu leiden. Er hatte sich erstaunlich gut von seinen kürzlich erlebten Abenteuern erholt, dem allgemein bekannten – sein Entkommen vor dem Silberapfel-Mörder – und dem geheimen – seine qualvolle Zeit in der Leinentruhe.
Er klopfte, aber es kam keine Antwort. Die Tür stand ein wenig offen, deshalb linste er vorsichtig hinein, mehr oder weniger in der Erwartung, dass Juno auf ihrem Bett läge und schliefe. Aber es zeigte sich schnell, dass niemand da war. Nicht einmal das Feuer brannte. Pin roch ihren Duft im Zimmer und sog ihn tief ein. Es war wohltuend, er dachte an all die anderen Gerüche, und auf einmal packte ihn der Wunsch, den Duft von Junos Kräutern einzuatmen. Unter ihrem Bett konnte er den Koffer sehen.
»Eigentlich dürfte ich nicht«, sagte er halbherzig, »aber ich glaube, sie wird dieses eine Mal nichts dagegen haben.«
Pin kniete sich hin und zog den Koffer hervor, ständig in dem Bewusstsein, dass Juno jeden Augenblick hereinkommen könnte. Er klappte den Deckel auf und untersuchte die verschiedenen Beutel voll duftender Inhalte, all die ordentlich eingeräumten Mittelchen und Salben. Was war nun was? Wie oft hatte er ihr zugesehen, wenn sie mit Stößel und Mörser umging, doch jetzt konnte er sich nicht mehr erinnern. Er würde die Sachen an ihrem Geruch erkennen müssen, allerdings entströmte dem Koffer eine derart überwältigende Duftwolke, dass seine Nase streikte. In einer Seitentasche steckte das schmale tropfenförmige Fläschchen, aber es war praktisch leer. Aus Neugier zog er den Stöpsel heraus und hielt sich das Fläschchen unter die Nase. Das wunderbare, doch unglaublich intensive Aroma ließ ihn jäh zurückfahren.
Eine Weile lag er auf dem Boden und schaute zur Decke hinauf. Der Raum schien sich auszudehnen und wieder zu schrumpfen, und er konnte die kleinsten Details wie durch ein Vergrößerungsglas sehen. Oben in der Ecke, dort, wo Wand und Decke zusammentrafen, sah er eine braune Spinne in ihrem Netz hocken. Pin erschien sie nur Zentimeter entfernt. Und dann geschah etwas höchst Eigenartiges: Die Spinne fing an, heftig von einer Seite zur anderen zu schwingen, sodass sie auf diese Weise ihr ganzes Netz in eine schnelle kreiselnde Bewegung versetzte. Pin sah zu, bis ihm schwindlig wurde, dann wandte er sich ab.
Mit seinem letzten Rest von Bewusstsein korkte er die Flasche zu, steckte sie wieder in den Koffer und schob ihn unter das Bett. Er stand auf, doch seine Glieder waren wie abgestorben, er hatte sie kaum unter Kontrolle. Es gelang ihm, zur Tür zu taumeln und dann die Treppe hinauf in seine Dachkammer zu kriechen. Um sein Bett zu erreichen, brauchte er seine ganze Energie, aber hinein kam er nicht. Er schüttelte den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren, doch das Letzte, woran er sich erinnerte, war ein strahlend helles Licht, das plötzlich den Raum durchflutete. Dann zerbarst es in Millionen winziger Teilchen und Pin brach geblendet von diesem Hagel zersplitterter Lichtstrahlen auf dem Boden zusammen, zuckend und selig lächelnd, und fiel in Ohnmacht.

Jemand war an der Tür. Pin war verwirrt. Er wusste, wo er sich befand, aber es war so hell. Das konnte doch kein Sonnenlicht sein, das durchs Fenster fiel? Er setzte sich auf und beschirmte seine Augen mit der Hand. Sein Herz flatterte wie ein kleiner Vogel. An der Treppe stand eine reglose Gestalt. Helles Licht umgab sie, ein Schatten fiel wie ein dunkler Fleck über den Boden.
»Wer ist da?«, fragte Pin und war überrascht vom Klang seiner eigenen Stimme.
Die Person trat einen Schritt vor.
»Weißt du nicht, wer ich bin?«, kam die Antwort. »Kennst du denn deinen Vater nicht?«
Pin schnappte nach Luft und spürte plötzlich einen Druck auf der Brust. Sein Atem ging stoßweise, er rappelte sich auf, schwankte und fiel auf sein Bett.
»Vater? Bist du es wirklich?« Ein Schluchzen drängte sich aus seiner zusammengeschnürten Kehle, er schluckte schwer. Mit aufgerissenen Augen starrte er die Gestalt an, konnte aber das Gesicht seines Vaters trotzdem nicht erkennen. »Komm ins Licht«, sagte er. »Ich kann dich nicht sehen.«
Der Mann trat langsam näher. Es stimmte tatsächlich, sein Vater war zu ihm zurückgekehrt. Mit einem Lächeln, das Falten in sein Gesicht grub, stand er da, die Arme weit ausgebreitet. Pin lief durchs Zimmer, ihm war, als berührten seine Füße den Boden nicht. Er sprang hoch und kräftige Arme umschlossen ihn.
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