Was sein Motiv angeht, nun, Unzurechnungsfähigkeit ist Motiv genug. Doch ob wahnsinnig oder nicht, wichtiger ist meiner Ansicht nach, dass wir ergründen, warum diese Morde stattfinden. Und dazu müssen wir versuchen, den Mörder besser zu verstehen. Er will uns etwas sagen. Das zeigt schon allein der Silberapfel.
Mir ist der Gedanke gekommen, er glaubt vielleicht, der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen, indem er die Straßen befreit von denen, die er für unerwünscht hält. Bisher jedoch waren seine Opfer immer einfache Bürger. Das erste war eine Wäscherin, das zweite ein Schornsteinfeger, das dritte ein Straßenkehrer, das vierte ein Kohlenhändler, das fünfte ein Dienstmädchen, das sechste ein Hausierer, der Gin verkaufte, das siebte ein Perückenmacher, und auch das achte – das letzte Opfer, das explodierte – war ein unbedeutender Mann.
Soweit ich verstehe, hält unser geschätzter Wachtmeister George Coggley die Morde für willkürliche Taten, Pech eben für das Opfer, und bisher hat er noch keine Verbindung zwischen den acht Toten hergestellt. Ich glaube jedoch, dass es einen Zusammenhang geben muss. Und ich möchte sogar so weit gehen, zu behaupten: Wenn es uns gelingt, dieses fehlende Verbindungsglied zu finden, dann können wir diesen grässlichen Gewalttaten Einhalt gebieten.
Meine Frage ist nun folgende: Tun die betreffenden Menschen unwissentlich etwas, das ihnen der Mörder übel nimmt? Führen sie damit ihr tragisches Ende unbeabsichtigt selbst herbei? Ich möchte sogar ganz unverblümt fragen: Haben sie ihr Schicksal etwa selbst verschuldet ?
Ich schließe mit einer erstaunlichen Nachricht. Aus einer meiner Quellen habe ich erfahren, dass in der vorgestrigen Nacht eine neue Tat des Silberapfel-Mörders vereitelt worden ist. Das Opfer, ein junger Bursche, befand sich bereits in seinen Händen. Der Junge wurde in den Fluss gestoßen, und zweifellos rasten ihm die letzten Gedanken durch den Kopf, während er stürzte und sich auf den tödlichen Moment des Eintauchens gefasst machte. Doch Fortuna, die launischste aller Gebieterinnen, war mit ihm, denn der Junge landete nicht im Wasser, sondern auf der soeben zugefrorenen Oberfläche. Wer hätte gedacht, dass exakt in dem Moment, in dem sich das Eis über dem Fluss schloss, ein Junge darauffallen würde? Nur wenige Sekunden früher, und er wäre darunter gefangen gewesen. Was so leicht sein Ende hätte sein können, wurde ihm zur Rettung. Des einen Freud, des anderen Leid. Und wenn dem Jungen das Glück zu Hilfe kam, welche gegensätzliche Macht war dann mit dem Mörder? Wie es so schön heißt: Es lässt sich an allem auch etwas Gutes finden.
Bis zum nächsten Mal,
Deodonatus Snoad
Deodonatus rieb sich über den Kopf. Er fühlte sich müde in diesen Tagen, körperlich und seelisch erschöpft. Die zwei beschriebenen Seiten in der Hand ging er zum Feuer. Aus einer Kanne, die er neben dem Kamin aufbewahrte, goss er sich einen Krug Bier ein, setzte sich und betrachtete nachdenklich sein hässliches Gesicht. Urbs Umida. Er hatte die Stadt zu seinem Zuhause gemacht und sie hatte gut für ihn gesorgt. Dennoch verachtete er ihre Bewohner, jeden Einzelnen von ihnen. Denn was sie auch sagen oder tun mochten, er wusste, wenn sie ihn zu sehen bekämen, würden sich seine »verehrten Leser« genauso entsetzt von ihm abwenden wie alle, denen er in seinem Leben begegnet war.
»Sie verdienen den Silberapfel-Mörder«, sagte er mit wohlbedachter Boshaftigkeit.
Deodonatus schüttelte heftig den Kopf, um derartige Gedanken zu vertreiben, erreichte damit jedoch kaum mehr, als dass sich das Dröhnen in seinem Schädel verschlimmerte. Seufzend blickte er auf die Seiten, die er eben geschrieben hatte. Während er sie durchlas, huschte ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht, so als sei ihm soeben etwas sehr Naheliegendes klar geworden.
»Sie werden es nie lernen«, murmelte er. »Sie haben Ohren und hören doch nicht.« Das galt heute genauso wie in dem Jahrhundert, als Aischylos diese Worte geschrieben hatte.
Deodonatus trank sein Bier aus und räumte flüchtig sein Zimmer auf, wobei er ein kleines Gefäß auf seinem Schreibtisch umstieß. Er fluchte, unternahm aber nur eine halbherzige Anstrengung, um die Pfütze aufzuwischen. Dann setzte er sich wieder, holte seine Uhr aus der Tasche und sah nach der Zeit. »Hmm«, überlegte er laut. »Nicht mehr lange.«
Er streckte die Hand aus und nahm sein Buch Houndseckers Märchen von Feen und Frohnaturen vom Kaminsims. Es öffnete sich von selbst auf einer viel gelesenen Seite:
Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin, die alles besaß, was eine Prinzessin sich nur wünschen konnte …
Kapitel 29

Pins Tagebuch
Es ist spät nach Mitternacht, aber ich muss das jetzt und auf der Stelle schreiben. Es handelt sich nämlich um ein Geständnis. Heute Abend habe ich etwas gemacht, das mir keine Ruhe lässt, weil es mit Täuschung und Verstellung zu tun hat. Zugegeben, ich scheue davor zurück, es niederzuschreiben, aber dieses Tagebuch soll meine Geschichte erzählen, meine ganze Geschichte und nicht nur die Teile, die ich andere gern lesen lassen würde.
Seit ich vor ein paar Tagen auf der Eisschicht des Foedus gelandet bin und zufällig den Fängen des Silberapfel-Mörders entkam, habe ich lange und gründlich über die Vereinbarung, die ich mit Juno getroffen habe, nachgedacht. Und je länger ich überlege, desto bestimmtere Formen nimmt mein Plan an. Meine Zukunft liegt nicht in dieser Stadt. Es gibt nur noch den einen einzigen Punkt zu bedenken: Gehe ich mit der Antwort, nach der ich schon so lange suche – ist mein Vater schuldig oder ist er es nicht –, oder gehe ich ohne sie?
Die Zeit läuft mir in jedem Fall davon. Ich war, um dem Rätsel der Leichenmagie auf die Spur zu kommen, ein zweites Mal bei der Vorführung mit Madame de Bona, doch ich bin um keinen Deut schlauer geworden, nur um ein Sixpencestück ärmer. Madame de Bona hat ihre Rolle perfekt gespielt. Benedict organisiert die ganze Sache und Juno schafft die passende Atmosphäre, denn genau das ist es, was sie mit diesen Kräutern tut: die widerlichen Kneipengerüche überdecken. Für gewöhnlich kann man oben im Vorführraum sogar das Gefräßige Biest aus dem Keller riechen. Meiner Meinung nach sollte sie ihr Fläschchen allerdings etwas weniger schwungvoll bewegen – der Duft ist schier überwältigend –, aber wahrscheinlich bin ich einfach empfänglicher dafür als andere. Nie werde ich glauben, dass diese Auferstehung echt ist. Mein Vater hat immer gesagt, es gibt für alles auf der Welt eine Erklärung, wir müssen nur danach suchen. Aber womit will ich beweisen, dass es Täuschung ist? Sogar Deodonatus Snoad scheint überzeugt.
Diese ganze Skelett- und Leichenangelegenheit ist mir tagsüber dauernd durch den Kopf gegangen, und ich war so unaufmerksam bei der Arbeit, dass Mr Gaufridus mich früher gehen ließ. Das hat er aber nicht zum ersten Mal getan. Ich denke, manchmal will er mich nur unter einem Vorwand loswerden, damit er in Ruhe an einem neuartigen Gerät arbeiten kann. Bevor er damit fertig ist, hält er es nämlich gern geheim. Es ist aber nicht schwer zu erkennen, wenn er etwas austüftelt. Er arbeitet ziemlich achtlos, ich finde oft Dinge auf dem Boden, die nichts mit Sargtischlerei zu tun haben – Schrauben, Bolzen, ölige Kettenglieder und dergleichen. Bestimmt bewahrt er solche Sachen heimlich in der »Cella Moribundi« auf.
Dadurch, dass ich so früh wieder in Mrs Hoadswoods Pension war, hatte ich Gelegenheit, ein sehr interessantes Gespräch mitzuhören. Ich blieb wie immer kurz an der Treppe stehen, um den Essensduft zu erschnuppern – etwas, das ich mir zur Gewohnheit gemacht habe. Und da wurde ich Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Benedict und Juno. Sie mussten allein sein, denn der Wortwechsel, der unten stattfand, klang hitzig und schonungslos. Ich wusste, dass ich nicht lauschen sollte, aber ich brachte es auch nicht fertig, einfach die Treppe hinaufzugehen. Ich hörte heraus, dass Benedict Juno zu einer weiteren Totenerweckung in privatem Kreis überreden wollte. Juno weigerte sich hartnäckig.
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