»Von hier aus kenne ich den Weg«, sagte Pin mit hörbarer Erleichterung. Er stand mit dem Rücken zur Uferböschung. »Ich danke Euch nochmals.« Gerade wollte er dem Fremden die Hand reichen, als ihn etwas ablenkte: Die ächzenden Laute hatten so plötzlich aufgehört, wie sie eingesetzt hatten, und es war klarer geworden.
»Hört Ihr?«, sagte er. »Dieses sonderbare Knarren ist nicht mehr da.«
Doch der Fremde machte sich gerade eifrig an seinem Stock zu schaffen.
»Sagt, was habt Ihr vorhin mit diesem Stock angestellt?«, fragte Pin neugierig.
Der Mann sah auf und ging einen Schritt auf ihn zu. Aus seinem Geruch schloss Pin, dass er sich wahrscheinlich nicht allzu oft wusch.
»Nun«, kam die Antwort, »schade, dass du das gesehen hast.«
»Warum?« Pins Vertrauen in diesen sonderbaren Retter geriet plötzlich ins Wanken.
»Weil es mein kleines Geheimnis ist.«
»Ich kann Geheimnisse gut für mich behalten«, sagte Pin, wobei er langsam zurückwich, bis seine Absätze gegen die Ufermauer stießen.
»Davon bin ich überzeugt.«
Unvermittelt trat der Mann auf Pin zu und fuhr grob mit der Hand in dessen Tasche.
»He!« protestierte Pin, doch bevor er noch etwas sagen konnte, hörte er es schwirren und klicken, spürte etwas mit explosivem Knall gegen seine Brust prallen und gleich darauf durchfuhr ihn ein elektrischer Schlag wie von einem Blitz. Er machte einen Satz rückwärts und stürzte über die Mauerkante. Er merkte, wie er fiel. Die Zeit verging langsamer als sonst und der Weg bis zur Wasseroberfläche kam ihm unendlich weit vor.
Ich rieche den Foedus gar nicht mehr, dachte er noch, bevor alles um ihn herum schwarz wurde.
Kapitel 27

Gerettet
Gimir ma’ ’ne Kartoffel«, lallte der junge Bursche und zupfte an Beags Ärmel, während er ihm aus der Tür des Flinken Fingers folgte. Beag schüttelte den Kopf und wollte weggehen. Er hatte friedlich in einer Ecke gesessen und sein Bierchen getrunken, als der junge Kerl ihn als den Kartoffelweitwerfer erkannt und angepöbelt hatte. Die kalte ruhige Luft schien keinerlei Wirkung auf den betrunkenen Zustand des Kerls zu haben; er hickste laut, ging bedenklich schwankend neben Beag her und hatte sichtlich gegen die Schwerkraft zu kämpfen.
»Ich willir sseigen, wie man werfen muss.«
Beag seufzte tief und drehte den Kopf, um dem lästigen Kerl ins Gesicht zu schauen. War das wirklich seine Bestimmung? Manchmal hielt er die Qual, die er in jener Nacht auf dem Cathaoir Feasa durchgemacht hatte, für weit geringer als die Qual, die er jedes Mal in dieser Stadt durchlitt, wenn er eine Kartoffel werfen musste. Mit einem frustrierten Seufzer griff er in seine Tasche und kramte eine große Rote Hickory hervor. Er rollte sie zwischen den Händen hin und her, um die anhaftende Erde zu entfernen, denn das behinderte einen schnellen Flug durch die Luft. Dabei überlegte er, was er tun sollte. »Also schön«, sagte er schließlich und kniete nieder, um eine Linie in den Schnee zu ziehen. Und in genau dieser Stellung sah er etwas durch die Beine des Betrunkenen (sie waren weit gespreizt), das ihn aufschreien ließ.
»Bei allen Heiligen!«, murmelte er. Täuschten ihn seine Augen? Er hatte gerade gesehen, wie jemand in den Foedus fiel. »He!«, schrie Beag, sprang auf und rannte los. »Was ist da passiert, um Himmels willen?«
Ein Mann starrte in den Fluss hinunter, doch als er Beags Rufe hörte, rannte er davon. Beag versuchte mitzuhalten, merkte aber rasch, dass er ihn nicht einholen würde. Rutschend bremste er ab, dann holte er weit aus, sammelte seine ganze Kraft und warf dem Fliehenden die Kartoffel nach. Mit tiefer Befriedigung beobachtete er, wie sie kreiselnd durch die Luft zischte und den Kerl schließlich mit einem dumpfen Laut am Kopf traf. Der Aufprall ließ ihn heftig taumeln, sodass er fast stürzte, doch er konnte sich aufrappeln und verschwand in der Nacht. Beag lief zum Ufer und schaute über die Mauer.
»Verflixt und zugenäht!«, rief er. »Das ist ja Pin!«

Pin war völlig durcheinander. Er wusste, dass er nicht wach war, aber er schlief auch nicht. Er wusste, dass er in den Foedus gefallen war, aber er war nicht nass. Im Gegenteil, er fühlte sich sogar angenehm gewärmt wie nach einer wohltuenden Suppe. Er meinte im Himmel zu sein, und es verlangte ihn auch nicht danach, aus der friedlichen Welt, die ihn umgab, zurückzukehren. Nur diese Stimmen, diese lauten, schneidenden Stimmen! Sie sollen endlich schweigen, dachte er, aber sie lärmten weiter wie ein Hagel aus Kieselsteinen, der gegen eine Fensterscheibe prasselt.
»Könnt Ihr denn nichts tun? Ich dachte, Ihr könnt Tote wieder lebendig machen«, sagte eine Stimme.
»Ich gehe mit Leichen um. Der Junge hier lebt aber noch«, sagte eine andere.
»Nur, dass er sich nicht rührt«, mischte sich eine dritte ins Gespräch.
»Vielleicht schläft er ja bloß?«
»Sollen wir ihn zur Probe mit einer spitzen Nadel in den Fuß stechen? Macht das nicht auch Mr Gaufridus so?«
»Ich bin sicher, er hat mal was gesagt von wegen Federkiel-ins-rechte-Nasenloch-Stecken. Das könnte ihn ja vielleicht wieder auf die Beine bringen.«
»Oder wohin sonst? Wo könnten wir ihm noch was Spitzes reinstecken? Wie wär’s mit …«
»Hast du denn nicht was in deinem Zimmer, Juno, das ihm helfen könnte? Ich weiß, dass du da oben Kräuter aufbewahrst. Hab es oft genug gerochen, wenn du nachts welche verbrannt hast.«
»Ich … vielleicht hab ich was. Wartet, ich will nachsehen.«
Ah, wieder Ruhe. Pin genoss die Stille, aber sie war von kurzer Dauer. Die Stimmen kamen wieder und dröhnten in seinem schmerzenden Kopf.
»Was ist das?«
»Eine Art Arznei. Die könnte helfen.«
Pin spürte etwas Kaltes unter der Nase und dann wurde er Opfer eines heimtückischen Angriffs auf seinen Geruchssinn. Mit einem jähen Ruck kam er hustend und niesend wieder zu Bewusstsein und sah sich auf einmal wach und aufrecht sitzend vier erleichterten Gesichtern gegenüber. Münder und Nasen wurden zugehalten.
»Oh, Gott sei Dank!«, sagte Mrs Hoadswood durch ihr Taschentuch. »Gut gemacht, Juno.«
»Was war das bloß für Zeug?«, fragte Beag.
»Foeduswasser«, nuschelte Pin immer noch keuchend. »Das würde sogar Tote aufwecken.«

Kurz darauf saß er vor dem Feuer in der Küche und löffelte heiße Suppe. In seinem Kopf pochte es, aber wenn er sein braunes Auge geschlossen hielt, schien das ein wenig Erleichterung zu bringen. Mit seinem grünen Auge sah er Juno vor sich stehen. Aus ihren Lippen war die Farbe gewichen, sie zitterte.
»Wo, um alles in der Welt, bist du denn auf einmal gewesen?«, fragte sie ärgerlich. »Gerade warst du noch da und im nächsten Moment warst du weg!«
»Du warst doch auch verschwunden«, sagte Pin empört. »Wie bist du zurückgekommen?«
Juno machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Es tut mir leid. Als ich dich nicht finden konnte, bin ich einfach weitergegangen und irgendwann rein zufällig in der Squid’s Gate Alley rausgekommen.«
Mrs Hoadswood schüttelte den Kopf. »Du weißt gar nicht, was du da für ein Glück hattest«, sagte sie. »Den Nebel hier darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Ein Teufel ist er, ein wahrer Teufel!«, rief Beag grimmig dazwischen.
»Wer?«, fragten Pin und Juno einstimmig.
Читать дальше