Pin zuckte nur mit den Schultern. Er mochte nicht mehr darüber sprechen. Außerdem wollte er ihr heute Abend etwas vorschlagen. Die wachsende Freundschaft zwischen ihnen ließ ihn hoffen, dass sie wenigstens über seine Idee nachdenken würde.
»Du kommst doch aber ganz gut über die Runden«, begann er. »Zusammen mit deinem Onkel.«
»Stimmt. Aber das geht nicht mehr lange.«
»Oh?«
Sie schlang die Arme um ihre Knie und starrte in die Flammen. »Nächste Woche geben wir im Flinken Finger unsere letzte Vorstellung.«
Sie hatten nicht mehr von ihren jeweiligen Plänen gesprochen seit jenem ersten Abend, an dem sie ihm von ihrer Suche außerhalb der Stadt erzählt hatte. Nun ergriff Pin die Gelegenheit beim Schopf, sie daran zu erinnern.
»Du weißt, dass auch ich hier wegwill.« Er machte eine Pause. »Vielleicht …«
»Vielleicht?«
»Vielleicht könnten wir uns zusammentun.«
»Ich weiß nicht«, sagte Juno zögernd.
Pin hatte schon damit gerechnet, dass Juno nicht so begeistert von dem Plan sein würde wie er selbst. Sie schien ein unabhängiges Mädchen zu sein und gewohnt, selbstständig für sich zu sorgen. Manchmal hatte er das Gefühl, dass ihre Kräuter ihr mehr bedeuteten als jeder Mensch. Doch ausgerechnet diese Kräuter sollten heute seine Verbündeten sein. Unter ihrem Einfluss war sie immer gelöst und sorglos, das wusste er inzwischen. Er hatte sich alles sehr gründlich überlegt und zweifelte nicht an seiner Idee – er musste Juno nur überzeugen. Er wusste, dass sie mit beiden Beinen fest auf der Erde stand, obwohl sie ihren Lebensunterhalt mit dem »Übernatürlichen« verdiente. Und das war in Urbs Umida dringend erforderlich. Er appellierte also an ihre praktische Seite.
»Ich könnte dir mit Madame de Bona helfen. Ich könnte Benedicts Rolle übernehmen.«
Juno lachte spitzbübisch. »Rolle? Das hört sich ja an, als redest du von einer Schau. Du vergisst wohl, dass man zum Leichenmagier geboren sein muss, das lässt sich nicht lernen. Glaub mir, ich weiß alles, was man über Leichenmagie wissen muss.«
»Und ich bin schnell im Lernen«, sagte Pin.
Dann spielte er seine Trumpfkarte aus.
»Ich mache dir ein Angebot«, sagte er und wusste sofort, dass er mit dieser Ankündigung ins Schwarze treffen würde. Einer solchen Versuchung konnte Juno unmöglich widerstehen. Ihre Augen leuchteten auf und er hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Er holte tief Luft.
»Wenn ich herausfinde, wie du Madame de Bona zum Leben erweckst, musst du mich mitnehmen, sobald du aus Urbs Umida weggehst.«
Juno kaute auf ihrer Unterlippe. »Hmm. So einfach ist das nicht. Außerdem weiß ich noch gar nicht, ob ich Madame de Bona überhaupt mitnehme.«
»In jedem Fall wäre es aber sicherer, wenn wir zu zweit gingen.«
»Vermutlich ja.«
»Und mehr Spaß würde es auch machen.«
»Also gut«, sagte sie endlich mit einem leichten Lächeln und streckte mir die Hand hin. »Abgemacht.«
Und nun war es Pin, dem plötzlich Zweifel kamen. Was, wenn er das Geheimnis der Leichenmagie nicht würde aufdecken können?
Erst seit er Juno kennengelernt hatte, war ihm klar, wie einsam er war. Die Aussicht, dass sie aus Urbs Umida weggehen und er selbst hier bleiben würde, war nicht sehr verlockend. Doch jetzt gab es für ihn immerhin die Chance zu einem Neuanfang. Natürlich war da auch noch Mr Gaufridus, aber der war genau der Mensch, der Pin ermutigen würde, eigene Wege zu gehen.
»Eins ist mir noch schleierhaft«, sagte Pin. »Diese Totenerweckungen von Privatpersonen wie Sybil. Ich meine, ein Skelett in einer Schau ist das eine, aber echte Leichen …«
»Du hast Mr Belding gesehen«, sagte Juno. »Er und Sybil hatten einen schlimmen Streit gehabt. Er hat ihr vorgeworfen, sie liebe ihn nicht, und Minuten später lag sie von einem Pferdefuhrwerk überfahren auf der Straße. Er wünschte sich weiter nichts als die Möglichkeit, sich anständig von ihr zu verabschieden. Und diese Möglichkeit haben wir ihm verschafft.«
»Zumindest denkt er, ihr hättet sie ihm verschafft«, grübelte Pin. »Aber ich werde die Wahrheit herausfinden.«
Juno betrachtete Pin mit spöttischem Lächeln. »Du glaubst wirklich, dass du das kannst, wie?«
Er nickte. »Jedenfalls weiß ich, dass die ganze Geschichte nicht möglich sein kann. Wenn man tot ist, ist man tot, so wie ich die Welt verstehe.«
»Du solltest ein bisschen mehr Glauben in dir haben. Manchmal ist es nämlich ganz gut, an Magie zu glauben.«
»In dieser Stadt gibt es keine Magie«, sagte Pin.
Kapitel 22

Aluph Buncombe
Mrs Cynthia Ecclestope saß in ihrem gepolsterten Sessel mit der hohen Rückenlehne und blickte immer wieder nervös zur Uhr auf dem Kaminsims. Die goldenen Zeiger standen auf halb elf. Ihre Freundinnen waren versorgt mit Tee (ihrer ganz persönlichen Mischung) und Kuchen (am Vormittag frisch hergestellt aus den besten Zutaten, samt – unbeabsichtigt – Schweißtropfen von der Stirn des Kochs und – beabsichtigt – Spucke des Butlers). Sie saßen auf verschiedenen Stühlen und Sesseln um die Gastgeberin herum, jede mit bestmöglicher Sicht auf Cynthia. Hinter vorgehaltenen Händen plauderten sie angeregt miteinander. Gesprächsthemen waren der Leichenmagier, das Gefräßige Biest und der Silberapfel-Mörder. Die Schwierigkeit dabei: Wie sollte man einen Besuch bei den Ersteren beiden bewerkstelligen, ohne dem Dritten in die Hände zu fallen?
Um Punkt elf Uhr wurde die Tür geöffnet und der Butler trat in Begleitung eines anderen Mannes ein. Er hüstelte leise und die Damen sahen auf.
»Mr Aluph Buncombe, Eure Ladyschaft«, kündigte der Butler an, bevor er sich mit dem gewissen unterschwellig höhnischen Grinsen zurückzog, das er für so feine Gesellschaften bereithielt. Aluph blieb einen Augenblick ruhig stehen und bot den Damen somit Gelegenheit, sein Äußeres würdigen zu können: sein dichtes, dunkel glänzendes Haar und sein gewinnendes Lächeln. Er hörte, wie sie kurz nach Luft schnappten, lächelte gleich noch eine Spur strahlender und zeigte dabei seine schönen Zähne, die er kurz zuvor noch mit der Spitze eines Zweiges poliert hatte. Zum Glück hatte er in der Eingangshalle in einen Spiegel geschaut und konnte vor seinem Eintritt in den Salon noch schnell das Petersilienblättchen entfernen, das zwischen seinen Zähnen hängen geblieben war – Petersilie kauen sorgte für frischen Atem. Als Aluph den Moment für gekommen hielt, schritt er mit beneidenswertem Selbstbewusstsein auf Mrs Ecclestope zu (für die Ausstrahlung eines solchen Selbstbewusstseins hatte er stundenlang in seinem Zimmer geübt) und war mit vier Schritten bei ihr, obwohl der Raum gut sechs Meter maß.
»Ah, Mrs Ecclestope«, sagte er, »welch unvergleichliches Vergnügen, in Euer liebreizendes Angesicht zu blicken.«
Er beugte sich vor, nahm ihre Hand und küsste sie – vielleicht eine Spur zu lange, wenn man ihren Stand als verheiratete Frau bedachte, aber dieses Auftreten gehörte zu seinem unnachahmlichen Charme. Mrs Ecclestope kicherte, wurde rot und wedelte heftig mit ihrem Fächer, die Hand entzog sie ihm aber erst nach mehreren Sekunden.
»Und wer sind all die bezaubernden Damen hier?«, fragte Aluph und lächelte auf eine Art, die jeder Einzelnen das Gefühl gab, er habe nur Augen für sie allein.
»Meine geschätzten Freundinnen«, sagte Cynthia und stellte sie ihm eine nach der anderen vor. Und einer nach der anderen küsste Aluph die weiche weiße Hand und sah ihre Wangen erröten.
»Meine Damen«, sagte er, als sich alle wieder auf ihren Plätzen niedergelassen hatten, »wie Ihr wisst, bin ich Aluph Buncombe, ein Kraniologe. Mit diesen Fingern« – er hielt seine schlanken Hände hoch und spreizte die Finger – »erspüre ich die kleinsten Unebenmäßigkeiten auf einem menschlichen Schädel. Diese Täler und Gräben sind komplizierte und ausführliche Anhaltspunkte für sämtliche Aspekte Eurer Persönlichkeit, sogar für solche, die Ihr lieber geheim halten würdet. Korrekt gedeutet, enthüllen sie einem Menschen Dinge, von denen er nicht einmal selbst weiß und die auf diese Weise sogar die Zukunft aufzeigen können.«
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