Zu guter Letzt waren es insgesamt zwanzig Ballons, fünf für jedes Elternteil.
Giles und Juniper nickten einander zu. Dann drehte sich Giles um und rannte nach Hause, während die zehn Ballons hinter ihm herschwebten, regenbogenfarbene Tropfen vor einem blauen Himmel. Juniper sah zum Schlafzimmerfenster ihrer Eltern hinauf. Sie atmete einmal tief durch und hoffte inständig, dass es nicht zu spät war.
Als sie das Haus betrat, wurde sie bereits von Kitty erwartet. Jaulend sprang der Hund bis an ihre Brust.
»Mir geht es gut, alles in Ordnung«, sagte Juniper beruhigend. »Aber wir müssen uns beeilen.« Als sie Kitty ansah, wurde ihre Stimme brüchig. »Es wird funktionieren, oder? Es muss einfach!« Kitty stieß ein leises Winseln aus und rieb sich an Junipers Bein. »Ich hoffe es auch. Heute ist alles möglich.« Gemeinsam mit ihrem Hund ging sie zum Schlafzimmer ihrer Eltern.
Juniper öffnete die Tür. Ihr Vater lag immer noch ausgestreckt auf dem Boden, während ihre Mutter in der merkwürdigen Position verharrt war, in der sie über dem Tisch zusammengesunken war. Ihre Augen waren geöffnet und leer. Die Sonne schien durch das riesige Fenster auf ihre gebrochenen Körper.
Juniper ließ sich auf die Knie fallen, öffnete einen der Ballons und hielt ihn mit zitternden Händen an die Lippen ihres Vaters. Es erinnerte sie an früher, als sie noch klein gewesen war und ihre Eltern sie liebevoll mit einem Löffel gefüttert hatten, den sie wie ein Flugzeug durch die Luft fliegen ließen. Jetzt musste sie sich um ihre Eltern kümmern. Sie ließ den Inhalt des Ballons in die Kehle ihres Vaters strömen und passte auf, dass nicht das kleinste bisschen danebenging. Dann war ihre Mutter an der Reihe.
Anschließend trat Juniper zurück und wartete darauf, dass etwas geschah. Doch nichts passierte. Mr. und Mrs. Berry blieben unbeweglich liegen.
»Nein, nein, nein! Bitte nicht!«, rief Juniper. Verzweifelt schüttelte sie ihre Eltern, schlug ihnen auf die Brust und küsste sie. Immer noch nichts.
Juniper wurde von dem schmerzlichen Gefühl gepackt, ihre Mom und ihren Dad für immer zu verlieren. Schnell öffnete sie einen zweiten Ballon für jeden und drückte die Luft zurück in die Lungen ihrer Eltern. »Los jetzt!«, flehte sie. »Mach schon! Rette sie!«
Voller Angst wartete Juniper darauf, dass sich die Seelen ihren Platz suchten. Ihre Eltern mussten zu ihr zurückkehren. Sie mussten einfach! Das Gesicht nass vor Tränen, starrte Juniper sie an und wünschte sie ins Leben zurück. »Ich brauche euch! Ich brauche euch beide so sehr …«
In diesem Moment bemerkte sie ein Flackern in den Augen ihrer Eltern und ein Zucken, das durch ihre Hände und Beine lief. Sie stöhnten leise, als würden sie nach einer langen Nacht voller Albträume erwachen.
Mehr Ballons. Juniper sprang auf und griff sich zwei weitere Ballons. Kitty sah aufmerksam zu, wie Mr. und Mrs. Berry die Luft aus dem dritten und vierten Ballon tranken.
Ungeduldig und so nervös, dass sie es kaum aushalten konnte, schlug Juniper mit den Fäusten immer wieder gegen ihre Oberschenkel. »Schnell! Hilf ihnen! Rette sie!«, flehte sie. »Rette sie!« Sie zog Kitty an sich und drückte den kleinen Hund trostsuchend an ihre Brust.
Zitternd beobachtete Juniper, wie das Leben in ihre Eltern zurückfloss. Ihre Haut begann zu leuchten, ihre Brustkörbe hoben und senkten sich. Ihre einst so leeren Augen spiegelten plötzlich die fast vergessene Vergangenheit wider. Langsam setzten sich beide auf und schüttelten die Köpfe, um ihre Benommenheit zu vertreiben.
Immer noch ziemlich angeschlagen, richteten Mr. und Mrs. Berry ihre Blicke auf ihre Tochter. Eine Weile starrten sie Juniper einfach nur an, ohne ein Wort herauszubringen.
Bitte lass es funktionieren , hoffte Juniper im Stillen. Bitte seid wieder meine Mom und mein Dad.
Die Stille dehnte sich aus. Doch dann …
»Juniper? Juniper?! Dem Himmel sei Dank! Juniper!« Mrs. Berry sprang auf, riss ihre Tochter in ihre Arme und drückte sie so fest sie konnte. Sie bedeckte Junipers ganzes Gesicht mit Küssen und hörte auch nicht auf, als die aufgeregte Kitty zu bellen begann und Juniper und ihre Mutter in die Beine zwickte.
»Mein Mädchen!«, rief Mr. Berry, als er seine Frau und seine Tochter in die Arme schloss. »Du hast es geschafft! Mein kleines Mädchen hat es geschafft!«
Auf diesen Moment hatte Juniper so lange gewartet. Der hoffnungsvolle Gedanke daran hatte ihr die Kraft gegeben, diesen Albtraum durchzustehen. Jeden Abend, wenn sie ins Bett gegangen war, hatte sie sich nach diesem Augenblick gesehnt. Jetzt war er Wirklichkeit geworden. Endlich hatte sie ihre Eltern zurück.
Es dauerte eine Weile, bis Mr. und Mrs. Berry sich wieder beruhigt hatten. Sie konnten gar nicht mehr aufhören, einander, Juniper und sogar Kitty zu küssen. Doch dann erklärte Juniper ihnen alles, was passiert war, seit sie ihre Eltern das erste Mal dabei beobachtet hatte, wie sie in die Welt unterhalb des Baumes hinabgestiegen waren. Sie berichtete von Giles und Dimitri, von Skeksyl und Neptun. Sie erzählte von dem schwarzen Raum der Träume, von Theodor, den Funken und davon, wie sie den Baum letztendlich gefällt hatten. Sie erzählte ihnen, wie sehr sie sie vermisst hatte.
Dann kam sie zum wichtigsten Punkt. Sie sagte ihren Eltern, dass sie noch zwei Ballons übrig hatte, einen für jeden. Sie konnten ihren Inhalt zurückbekommen, doch sie wussten alle drei, was das bedeutete: Sie würden alles, was sie durch den Handel mit Skeksyl gewonnen hatten, mit der Zeit wieder verlieren.
»Ich weiß nicht, ob euch weiterhin alles so gut gelingen wird wie früher«, sagte Juniper. »Es gibt keine Garantie. Vielleicht kannst du dich nicht mehr so gut in deine Figuren hineinversetzen, Dad. Vielleicht hörst du ihre Stimmen nicht mehr.«
Mr. Berry ergriff Junipers Hand. »Ich werde schon die richtigen Worte finden. Nur dass es jetzt meine eigenen sein werden und nicht die von jemand anderem. Vielleicht gefällt das nicht allen, aber das ist mir egal. Ich werde einfach das tun, was sich richtig anfühlt, und ich habe dich und deine Mutter. Das hätte ich eigentlich von Anfang an wissen sollen.«
»Wir waren so verloren«, sagte Mrs. Berry. »Wir hatten alles und trotzdem nichts. Wir drei zusammen, so wie jetzt, das ist es, was wirklich zählt. Wir haben so viel verpasst. Du hast so viel verpasst, Juniper. Es tut uns so, so leid.« Sie sah zu ihrem Mann, dann wieder zu Juniper. »Liebling, gib uns die Ballons.«
Nachdem auch die Luft aus den letzten beiden Ballons zurück in ihre Lungen geflossen war, waren Mr. und Mrs. Berry endlich wieder ganz die Alten.
»Was möchtest du jetzt als Erstes tun, Juniper?«, fragte ihr Vater, ein fast vergessenes Grinsen auf dem Gesicht. Zum ersten Mal seit Langem war er wieder völlig er selbst. Er nahm Junipers Gesicht in die Hände, streichelte ihre Wangen mit den Daumen und wischte ihre Tränen fort. »Alles, was du willst. Was sollen wir machen?«
Juniper brauchte nicht lange zu überlegen. »Ich will eine Party feiern!«
Mr. Berry lachte und zog sie an sich. »So soll es sein. Wir geben eine Party!« Er küsste sie auf die Stirn.
Mrs. Berry hob Juniper hoch und schwang sie im Kreis herum, ein Tanz, auf den sie so lange hatte verzichten müssen. Mr. Berry umarmte beide und Juniper schloss erleichtert die Augen.
»Meine wunderbare Familie«, murmelte Mrs. Berry. »Wir sind wieder zusammen. Alles ist gut.«
Dem konnte Juniper nur zustimmen.


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