Sie beugte sich vor und hielt ihr Ohr so nah wie möglich an seinen Mund. »Was hast du gesagt?«
Dann tröpfelten die Worte leise aus seiner Kehle und fanden den Weg zu ihr. »Hilf uns!«
Junipers Augen wurden weit vor Entsetzen.
Es krachte laut, als ihre Mutter nach vorne auf die Tischplatte knallte und sich zu drehen und zu winden begann. Ihre Knie donnerten gegen den Tisch, ein Glas fiel zu Boden und zersprang. Sie ruderte heftig mit den Armen, und ihr Gesicht schlug mehrmals auf die Tischplatte, bis auf ihrem Nasenrücken eine blutende Wunde klaffte. Sie hatte jede Kontrolle über ihren Körper verloren.
Gleichzeitig begann Mr. Berry auf der anderen Seite des Tisches genauso zu zucken wie seine Frau. Er wurde von Krämpfen geschüttelt, als würde er unter Strom stehen, glitt vom Stuhl und fiel mit dem Gesicht nach unten zu Boden, wo er zappelnd liegen blieb.
Juniper machte einen Schritt zur Seite, entsetzt und hilflos. Tränen traten ihr in die Augen. »Mom! Dad!«
Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Beim Klang ihrer Stimme wurden die Körper ihrer Eltern schlaff und es legte sich Stille über das Haus. Aber sie währte nur kurz.
Das Gesicht auf den Boden gepresst, mit geöffnetem Mund und leeren Augen, die nach Juniper zu suchen schienen, platzte etwas in Mr. Berrys Kehle. Seine Augen flackerten und zwei Worte stiegen aus seinem Mund, laut und angsteinflößend wie ein Urschrei. »Rette unsss!« Dann noch einmal: »Rette uuunnnnnssss! Rette uuunnnssssss!« Immer und immer wieder.
Juniper hielt sich die Ohren zu und lief aus dem Zimmer. Sie rannte die Treppe hinab, durch die Hintertür hinaus und in den Wald hinein, während die Worte sie wie giftiger Nebel umgaben. In ihrem Kopf herrschte ein riesiges Chaos aus Angst, Panik und schrecklicher Trauer. Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie es viel zu lange versäumt hatte, ihren Eltern zu helfen. Und jetzt waren sie vielleicht für immer verloren.
Junipers Füße trommelten wie wild über den Boden. Sie wollte vor allem, was passiert war, davonlaufen. Sie wollte so lange rennen, bis sie in der Vergangenheit angekommen war, in der Zeit, als sie noch ein normales Leben gehabt hatte. Sie rannte und rannte und rannte und wollte nicht eher anhalten, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Bis sie Giles gefunden hatte.
Bald war sie an der Grenze zu Giles’ Grundstück angekommen. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie mehrere Gestalten auf dem Rasen entdeckte.
Im fahlen Mondlicht erkannte sie Giles, der im Gras kniete. Rechts und links von ihm lagen mit den Gesichtern nach unten ein Mann und eine Frau.
»Giles!«, schrie Juniper. Sie stürzte zu ihm und umarmte ihn ganz fest. Doch er bewegte sich nicht, er sah sie nicht einmal an. Sie hörte ihn leise weinen.
»Sie … sie bewegen sich nicht mehr«, stammelte er. »Ihre Augen und Münder waren weit aufgerissen und sie haben gezittert und merkwürdige Geräusche gemacht. Ich musste sie auf den Bauch drehen, ich konnte es nicht mehr ertragen.« Er zeigte auf zwei schlaffe Ballons, die neben seinen Eltern auf dem Boden lagen. »Sie konnten nicht mal abwarten, bis sie zu Hause waren. Wie ich. Und jetzt …« Seine Stimme versagte und er schniefte. »Wofür das alles? Was ist von ihnen geblieben?«
»Ich weiß«, sagte sie. »Bei meinen Eltern ist es genauso.«
Endlich sah Giles Juniper an und nickte traurig. Dann umarmte er sie. Wärme erfüllte ihre Körper, die Liebe eines Freundes.
»Ich muss dir etwas sagen.« Er ließ sie los. »Das hier sind nicht meine Eltern. Nicht meine richtigen Eltern zumindest, sondern Mr. und Mrs. Abernathy. Ich … ich habe keine Eltern mehr. Ich habe mit meiner Großmutter in einer Dienstboten-Wohnung der Abernathys gelebt, bis Oma gestorben ist. Ich hatte bis dahin nur für sie gearbeitet, aber sie haben mich aufgenommen und sich um mich gekümmert, zumindest bis …« Er starrte auf die beiden Körper am Boden. »Ich wollte nicht, dass du es weißt.«
»Es macht keinen Unterschied, Giles.«
»Früher waren sie nett zu mir, sie haben mich wie ihren eigenen Sohn behandelt. Aber das ist lange her, als sie noch andere Menschen waren.«
»Ich habe die beiden gesehen«, sagte Juniper. »Vor einer knappen Stunde. Ich bin meinen Eltern unter den Baum gefolgt und sie kamen kurz danach.«
»Mir hätte es genauso ergehen können«, sagte Giles benommen. »Ich habe die Veränderungen schon gespürt. Aber sie waren so schwach, dass ich sie kaum wahrgenommen habe. Es ist, als wenn du etwas vergisst, doch du weißt nicht mehr, was oder ob es wichtig war. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich wollte es nur noch ein paar Mal machen und aufhören, bevor es richtig schlimm wird.«
»Giles, du hattest es nie nötig, irgendetwas an dir zu ändern.«
»Aber ich habe immer gedacht, ich müsste es. Wenn du mit mir zur Schule gegangen wärst, hättest du mich auch nicht gemocht. Ganz sicher. Du hättest dich mit den anderen zusammengetan. Du weißt nicht, wie das ist. Du bist ein hübsches Mädchen. Das ändert einiges. Statt mit mir zu reden, hättest du mit deinen Freundinnen herumgekichert und dabei abschätzige Blicke in meine Richtung geworfen. Du hättest die Jungs gemocht, die mich verprügelt haben. Wenn wir zusammen zur Schule gegangen wären, hätte ich mir gewünscht, dass du mich magst. Aber du hättest dir das nicht gewünscht.«
»Ich mag dich jetzt. Ich mag alles an dir. In der Schule wäre es auch nicht anders. Nichts wäre dort anders. Ich würde immer noch selbst entscheiden, mit wem ich rede und mit wem nicht. Und ich möchte mit dir reden. Mit dem Giles, wie er war, als ich ihn kennengelernt habe.«
Giles sah ihr fest in die Augen. »Ehrlich?«
»Ja. Ich mag dich wirklich. Du hast mir in den letzten Tagen so sehr gefehlt.«
»Versprichst du, dass du es dir wirklich niemals anders überlegst?«
»Ich weiß, wer ich bin.«
»Du wirst mich nicht vergessen? Ehrlich?«
»Nein. Niemals.«
Ohne zu zögern, beugte sich Juniper zu ihm hinüber und schloss ihn noch einmal in die Arme. In ihrer Umarmung lag alles, was sie fühlte. All ihre Liebe und ihr Schmerz, ihr Kummer und ihre Verwirrung. Und zugleich spürte sie alles, was Giles fühlte. Schließlich seufzte Giles mit geschlossenen Augen: »Danke.«
Sie ließen einander los, und Juniper sah zu den Abernathys, die lang ausgestreckt auf dem Rasen lagen. Sie dachte an ihre Eltern, und Wut stieg in ihr auf. »Skeksyl darf nicht gewinnen, Giles. Wir werden dieser Sache ein Ende bereiten und alles wieder in Ordnung bringen.«
»Aber wie?«
Sie sah ihn entschlossen an. »Wir müssen diese Ballons zurückholen.«

Nachdem Juniper und Giles die Abernathys sicher ins Haus gebracht hatten, gingen sie durch den Wald zurück. Unterwegs erzählte Juniper von ihrer Begegnung mit Theodor und davon, dass die Ballons in Wirklichkeit kleine Teile der Seele eines Menschen raubten. Sie wussten, dass das, was sie vorhatten, nicht leicht werden würde. Aber sie mussten irgendwie an Skeksyl vorbeikommen, herausfinden, wohin die Halle hinter seinem Tisch führte, und hoffen, die Ballons zu finden. Es war kein besonders guter Plan, aber einen anderen hatten sie nicht.
Die Nacht war düster und feucht und an dem in dichte Nebelwolken gehüllten Himmel war kein einziger Stern zu sehen. Doch nach einer Weile tauchte der Baum aus der Dunkelheit auf. Juniper und Giles wussten, dass es um nicht weniger als ihre Zukunft und die ihrer Eltern ging. Schreckliche Vorahnungen ließen ihre Mägen rumoren. Über ihnen saß der Rabe Neptun unheilvoll auf seinem üblichen Zweig und wackelte mit dem Kopf, als würde er sich an ihrer Angst erfreuen. Wie immer hielten sich alle anderen Vögel fern.
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