»Ich … ich bin meinen Eltern gefolgt.«
»Oh. Es tut mir leid, das zu hören. Haben sie diesen Ort gerade erst entdeckt? Manchmal höre ich Geräusche vor meiner Tür, aber was außerhalb dieses Raumes vor sich geht, bleibt ein Rätsel für mich.«
»Ich glaube, sie kommen schon lange her.«
»Verstehe.« Er beugte sich mit weit geöffneten Augen vor. »Hör mir jetzt genau zu. Du musst sie aufhalten. Sie dürfen nicht mehr herkommen. Nie wieder.«
»Warum? Was passiert sonst?«
»Ich bin sicher, du hast es bereits bemerkt. Sie müssen sich direkt vor deinen Augen verändern, du armes Kind. Sie ähneln nicht mehr den Eltern, an die du dich erinnerst, nicht wahr?«
Traurig schüttelte Juniper den Kopf.
»Und weißt du auch, warum? Weißt du, was deine Eltern bei diesem Handel verlieren?«
»Sie blasen einen Ballon auf.«
»Vergiss nicht, es sind besondere Ballons. Sie funktionieren ganz anders als die gewöhnlichen Ballons, die du kennst. Nein, diese Ballons werden nicht einfach mit Luft aufgeblasen.«
Seine Worte machten Juniper Angst. »Womit dann?«
»Sie nehmen einem die Seele.«
Juniper vergrub das Gesicht in den Händen.
»Tief in dir drin hast du es bereits gewusst, nicht wahr? Du hast die Zeichen gesehen.«
»Ja …«, schluchzte Juniper zwischen ihren Fingern hindurch.
»Juniper, deine Eltern können und dürfen keine weiteren Ballons mehr für ihn aufblasen.«
»Warum? Warum tut er das?«
»Mein liebes Mädchen, diese Ballons sind sein Lebenselixier. Mit viel List und schönen Worten sammelt er so viele er kann und lagert sie, damit sie reifen. Wenn er dann schließlich die Luft aus einem Ballon einatmet, gewinnt er Jahrzehnte neuer Lebenszeit. Er hat Dutzende Ballons gelagert und die Luft von weiteren Dutzenden bereits eingeatmet. Er versucht, ewig zu leben. Mit ihm ist nicht zu spaßen. Er ist älter, als du es dir vorstellen kannst, und er wird länger auf dieser Erde weilen, als es irgendeiner sonst jemals schaffen wird.« Er verstummte und atmete seufzend aus, als wollte er so leer werden wie sein Ballon. »Abgesehen von mir vielleicht. Er zwingt mich, ebenfalls von den Ballons zu trinken.«
»Wer ist er?«
» Was ist er, besser gesagt. Er ist ein schwarzer Spiegel, ein dunkler Dieb, der vor langer Zeit hierher verbannt wurde.«
»Verbannt von wo?«
»Von einem Ort, an den kein Mädchen wie du gehört. Ein Ort, an den du nicht einmal denken solltest, wenn du nicht verrückt werden willst. Glaub mir, Juniper, es gibt wesentlich schlimmere Welten als diese. Und jetzt musst du deinen Eltern helfen.«
»Was kann ich tun?«
»Lass deine Eltern nicht hierher zurückkommen. Halte sie auf, koste es, was es wolle. Bevor es zu spät ist.«
»Aber ist schon zu spät. Ich will meine alten Eltern zurück.«
»Das ist unmöglich, liebes Kind. Du müsstest zu all den Ballons gelangen, die er sicher weggeschlossen hat. Nicht einmal ich weiß, wo er sie aufbewahrt. Außerdem würde er dich niemals in die hintere Halle lassen. Er ist immer da. Halte dich an die Eltern, die du jetzt hast.«
Juniper lief zu seinem Tisch. »Bitte! Es muss doch einen Weg geben!«
»Sei vorsichtig, Juniper. Deine Seele wird er am allermeisten wollen. Die Seele eines Kindes, besonders die eines Kindes wie dir, ist viel mehr wert als die jedes Erwachsenen. Doch nur sehr selten ist ein Kind bereit, den Tauschhandel einzugehen.«
»Ich muss meine Eltern retten.«
»Nein. Unmöglich. Und jetzt geh. Er weiß, dass heute ein Ballon fertig werden sollte. Er wird bald hier sein.«
Juniper sah sich um. »Ich kann Ihnen helfen, diesen Ort zu verlassen.«
»Liebes Kind, ich werde niemals hier wegkommen. Dieser Ort ist mein Schicksal.« Dann lächelte er. »Wenigstens habe ich jetzt wieder einen Namen.«
Auf Junipers Gesicht erschien ebenfalls ein schwaches Lächeln. »Theodor.«
»Theodor. Und jetzt geh. Handle klug. Pass auf dich auf, kleine Juniper Berry. Und denke daran, manchmal ist das, was uns normal erscheint, in Wirklichkeit außergewöhnlicher als alles andere.«
Sie öffnete die Tür. Die Luft war rein und sie schlich auf Zehenspitzen durch die Halle zurück zur Treppe. Sie schaute sich nur einmal um und erblickte zu ihrer Überraschung ein weiteres Paar, das auf dem Weg zu Skeksyl war. Juniper sah ihnen jedoch nicht lange nach. Sie rannte die Stufen hinauf und zurück zur Villa.

Das Haus war dunkel. Nichts bewegte sich und es war ganz still. Keine einzige Lampe leuchtete, keine Stimmen waren zu hören, keine Schritte, kein Papiergeraschel, nichts. Das Haus schien in einen todesähnlichen Schlaf gefallen zu sein. Juniper musste ihre Eltern finden, doch allein der Gedanke erfüllte sie mit Furcht.
»Mom?« Ihre Stimme war heiser vor Angst, als sie das Haus durch die Hintertür betrat. »Dad?« Doch wie erwartet, erhielt sie keine Antwort. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie verschränkte die Hände, damit sie nicht im selben Rhythmus zitterten wie ihr Herz. Sie musste ihre Eltern finden, bevor sie die Luft aus den Ballons saugten.
Langsam ging sie zum Esszimmer, wo sie ihre Eltern das letzte Mal gefunden hatte. Kitty war vermutlich noch in Junipers Zimmer und versteckte sich unter dem Bett.
Juniper wünschte, sie könnte mit ihr tauschen und sich im Bett verkriechen. Manchmal war es unerträglich, ein Mensch zu sein. Aber sie ging weiter.
Mit geschlossenen Augen bog sie um die Ecke. Das Esszimmer war nur noch wenige Schritte entfernt. Dann war sie dort angekommen, doch sie traute sich nicht nachzusehen.
Bitte, bitte, lass sie nicht dort sein. Lass sie nicht dort sein.
Sie schlug die Augen auf. Ihre Eltern waren nicht im Esszimmer. Der Raum war leer, es war keine Spur von ihnen zu sehen. Juniper seufzte erleichtert.
Vielleicht war es noch nicht zu spät. Mit neuer Zuversicht suchte sie den ganzen ersten Stock ab, ohne ihre Eltern zu finden. Sie mussten im Obergeschoss sein.
Ihre Hand umklammerte das Geländer, als sie die Treppe in den zweiten Stock hinauflief, direkt zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Der Holzboden knarrte unter ihren Füßen.
Juniper atmete tief ein und öffnete langsam die Tür.
Dort waren sie. Sie saßen einander bewegungslos an einem kleinen Tisch vor dem großen Fenster gegenüber. Das Fenster ging zum Garten hinaus und hinter der Scheibe war der in Wolken gehüllte Mond zu sehen.
Mr. und Mrs. Berrys Köpfe waren nach hinten gekippt, sodass ihre weit aufgerissenen Augen zur Decke starrten und ihre Münder offen standen. Ihre Beine waren ausgestreckt, die Arme hingen seitlich herab und ihre Körper waren vollkommen steif, als wären sie erstarrt. Unter den Stühlen, direkt neben ihren geöffneten Händen, lagen zwei leere Ballons.
»Mom? Dad?«
Ihre Eltern antworteten nicht, doch je näher Juniper kam, desto mehr glaubte sie, etwas zu hören. Bald war sie sich sicher. Das Geräusch war leiser als ein Flüstern und ertönte aus den Mündern ihrer Eltern. Es klang, als hätte ihnen jemand etwas tief in die Kehlen gestopft. Juniper ging noch einen Schritt näher heran. Dann noch einen.
Als sie schließlich nur noch eine Armeslänge entfernt war, sah sie die Kehle ihres Vaters im Mondlicht zucken. Sein Hals pochte, sein Puls ging viel zu schnell. Der Ton wurde lauter. Es war ein leises, gurgelndes Geräusch. Er versuchte, etwas zu sagen.
»Dad?« Langsam streckte sie die Hand aus, um ihn zu berühren. Er war eiskalt, und als sie ihn aufsetzen wollte, regte er sich nicht. Sein Körper war steif gefroren. In seinem Mund bewegte sich seine aufgedunsene Zunge. Auf seinen Lippen bildeten sich kleine Bläschen und zerplatzten. »Was hast du gesagt, Dad?«, fragte Juniper.
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