Juniper fand das Zeichen auf dem Stamm, und die Treppe öffnete sich vor ihnen. »Bereit?«, fragte sie Giles.
»Nein.«
Juniper lächelte kurz, dann sah sie Giles fest an. »Ich auch nicht, aber diese Ballons werden nicht einfach von allein hier heraufschweben.« Sie machte einen Schritt nach vorn, dann hielt sie inne. Sie drehte sich zu Giles. »Ich bin froh, dass du bei mir bist. Ich könnte das nicht ohne dich tun.«
Er lächelte ihr schüchtern zu. »Und ich nicht ohne dich.«
Sie setzten ihre Füße auf die rissigen Stufen und stiegen noch einmal in die Unterwelt hinab, während Neptun an ihnen vorbeiflog und ihnen den Weg wies, der ihnen inzwischen viel zu vertraut war. Der Rabe krächzte unentwegt und Giles hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. »Hier unten haben seine Worte viel mehr Kraft«, erklärte er, während sie die Stufen hinabstiegen. »Er sagt, ich soll dich davon überzeugen, diesmal einen Ballon zu nehmen. Er fleht mich förmlich an. Er will dich unbedingt.«
»Sie wollen uns beide«, sagte Juniper. »So wie sie sich meine Eltern und die Abernathys gekrallt haben. Wir dürfen uns von Skeksyl nicht in Versuchung führen lassen. Egal, was passiert.«
Als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, liefen sie durch die Halle, an den sechs mit Holzschnitzereien verzierten Türen vorbei und fanden Skeksyl an seinem Tisch vor, wo er schon auf sie wartete. Die beiden Stühle standen ebenfalls bereit, als wäre dies ein ganz alltäglicher, lange verabredeter Besuch.
»Ah, meine Freunde«, rief Skeksyl mit seiner Fistelstimme, während er die Fingerspitzen beider Hände gegeneinanderdrückte. »Ich hatte gehofft, euch wiederzusehen. Aber bitte, nehmt doch Platz.« Ohne sich zu erheben, bot er Juniper und Giles mit einer Handbewegung und einem leichten Nicken seines unter der Kapuze verborgenen Kopfes die beiden leeren Stühle an.
Juniper setzte sich. »Ich … ich konnte nicht länger warten.«
»Jaaaaa.« Er zog das Wort in die Länge und wieder blitzte sein gelbes Lächeln aus der Dunkelheit unter der Kapuze hervor. »Wertvolle Zeit wurde bereits vergeudet, mein liebes Mädchen. Aber …« Er sah zu den zuckenden Schatten an der Wand. »Du bist nicht wegen der Schriftstellerei hier, oder? Nein, diesmal nicht. Heute geht es um etwas anderes. Ja, ganz sicher. Es gibt keine Geheimnisse zwischen uns, Juniper Berry. Deinen Eltern geht es nicht gut, richtig?«
Juniper erstarrte. Das hatte sie nicht erwartet. Auch Giles sah überrascht auf die hagere Gestalt am anderen Ende des Tisches.
»Ich weiß, was mit ihnen geschehen ist, Juniper. Es gibt keine Rettung mehr für sie. Dafür ist es viel zu spät. Ohne meine Hilfe wirst du sie verlieren, sie werden sterben. Aber es gibt Hoffnung, Juniper. Ich kann dir die Kraft und das Wissen geben, um deine Eltern zu retten, sie aus der Leere zurückzuholen, ja sogar die Liebe wiederaufleben zu lassen, die sie dir die ganze Zeit vorenthalten haben.«
Juniper und Giles saßen vor Schreck wie festgenagelt auf ihren Stühlen. Aber Skeksyl war noch nicht fertig. »Und nicht nur das. Ich werde einen besonderen Handel mit dir abschließen. Du bekommst alles. Für einen einzigen Ballon bekommst du alles, wovon du immer geträumt hast. Ich gebe dir Weisheit, Juniper. Du suchst nach Weisheit und Erleuchtung, nach Definitionen und Erklärungen, einer Stimme, die dir die Welt erklärt. Warum bist du so, wie du bist? Was ist mit deinen Eltern passiert und was kannst du dagegen tun? Du suchst nach Antworten, weil du dazugehören willst. Aber vor allem möchtest du erfahren, wie du endlich deine Familie zurückbekommst.«
»Ja.« Junipers Antwort kam wie von selbst. Zog sie Skeksyls Vorschlag wirklich in Betracht? Je länger sie über sein Angebot nachdachte, desto stärker wurde ihre Sehnsucht. Und je mehr sie sich das eingestand, desto tiefer grub sich die Sehnsucht in ihr Herz.
Wie sollten sie es überhaupt schaffen, an Skeksyl vorbeizukommen? Es war unmöglich. Doch ihre Eltern aus eigener Kraft retten, das konnte sie tun. Jetzt und hier. Mit dieser Gabe, die ihr Skeksyl versprach, würde sie sich nie wieder verloren fühlen. Sie würde wahres Glück erfahren.
»Ich kann dir geben, was du dir wünschst. Es ist ganz leicht. Dein persönlicher Spickzettel, um die Welt zu verstehen. Du brauchst keine Bücher mehr, keine Ferngläser, du brauchst weder Giles noch mich. Du musst nie wieder nach Antworten suchen, weil du in allem die Gründe bereits erkennen wirst. Ich gebe dir die Welt in Schwarz und Weiß, Juniper. Du bekommst deine Eltern zurück und nichts wird dir jemals wieder Sorgen bereiten oder Angst machen. Du willst dich wie jemand fühlen, der dazugehört? Und deine Eltern retten, nicht wahr? Dies ist der einzige Weg.«
»Bitte.« Plötzlich konnte sie diese Gabe nicht schnell genug bekommen. Skeksyl verstand sie. Er hatte sie immer verstanden. Und sosehr Juniper seine unheimliche Macht auch fürchtete, so wusste sie doch, dass es keinen anderen Weg gab. Sie war hergekommen, um ihre Eltern zu retten. Und jetzt hatte sie die Möglichkeit dazu. Für einen einzigen Ballon.
Skeksyl griff unter seinen Umhang. »Sag mir, Juniper, was ist deine Lieblingsfarbe?«
»Gelb«, antwortete sie.
Skeksyl zog einen gelben Ballon unter seinem Umhang hervor, den er vor sich auf den Tisch legte, und einen roten Ballon, den er vor Juniper auf den Tisch legte. »Rot ist meine Lieblingsfarbe«, sagte er.
»Ich weiß«, erwiderte Juniper.
Sein Kopf neigte sich ein wenig, als würde er diese beiden Wörter nicht richtig verstehen. Aber er hatte es eilig und tat Junipers Antwort mit einem Achselzucken ab. Dann zog er seine Schreibfeder aus dem Umhang und schrieb das Wort Weisheit auf den gelben Ballon. Eifrig führte er den Ballon an seine Lippen und blies ihn auf. »Der Stoff, aus dem deine Träume sind«, sagte er, während er das Band festknotete, um das, was er in den Ballon geblasen hatte, darin einzuschließen.
Schließlich reichte er Juniper lächelnd die Feder. »Jetzt bist du an der Reihe.«
Ruhig griff sie nach der Feder und wunderte sich, wie angenehm sie sich in ihrer Hand anfühlte.
Ein Ballon , dachte sie. So wie Giles. Ich mache es nur dieses eine Mal und dann nie wieder. Ich werde nicht so wie meine Eltern. Ein Ballon, und alles ist wieder in Ordnung.
Die Feder berührte den Ballon und hinterließ einen kleinen, schwarzen Punkt.
»Juniper …«, rief Giles von der anderen Seite des Tisches.
Sie hielt inne.
»Sei still, Junge!«, blaffte Skeksyl, ohne den Blick von Juniper abzuwenden. »Lass sie zu Ende schreiben. Zu dir kommen wir noch früh genug. Mach weiter, Juniper, setz deine Unterschrift auf den Ballon.«
Juniper drückte die Feder wieder auf den Gummi und konzentrierte sich auf ihre Eltern.
Doch Giles unterbrach sie noch einmal. »Warte, Juniper!«
Sie wusste, dass er sie aufhalten und daran erinnern wollte, weshalb sie hergekommen waren, doch sie konnte sich nicht bewegen.
»Du bist gleich an der Reihe, Junge«, sagte Skeksyl mit eisiger Stimme. »Unterschreibe, Juniper, dann ist der Handel perfekt. Deine Eltern werden voller Leben sein und dich wieder lieben. Unterschreibe. Jetzt.« So ungeduldig hatte sie ihn noch nie gesehen. Er war bis zur Stuhlkante gerutscht und lehnte sich weit über den Tisch. »Jetzt!«
Die Feder in ihrer Hand begann zu zittern.
»Schreib!«
Die Tinte floss, als sich die Feder bogenförmig über den roten Ballon bewegte und ein krakeliges J hinterließ.
Giles sprang auf. »Nicht, Juniper!« Er machte zwei Schritte auf sie zu, bevor Skeksyls Stock nach vorne schoss und ihm den Weg versperrte.
Neptun krächzte, als Skeksyl sich erhob und sein Stuhl nach hinten kippte. Einen Augenblick später ragte er drohend über Giles auf und griff mit bleichen Fingern nach seiner Kehle. Er konnte Giles’ dünnen Hals locker mit einer Hand umfassen. »Ist dir deine neue Kraft zu Kopf gestiegen?« Er hob Giles ein Stück vom Boden ab und schleuderte ihn gegen die Wand. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass du wahre Stärke kennenlernst!«
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