Juniper konnte nur zuschauen, die Feder war in ihrer Hand erstarrt.
Giles strampelte und würgte und wurde ganz blau im Gesicht. Skeksyl lachte. »Schau dich an, wie armselig du bist! Und jetzt wird Juniper unterschreiben und dich endlich so sehen, wie du wirklich bist.«
Doch Juniper war anderer Meinung. Sie wusste bereits genau, wer Giles war. Er war ihr Freund, der beste, den ein Mädchen haben konnte.
Skeksyl schäumte vor Wut. »Sag mir, Junge, was könnte ein armseliger Kerl wie du einem Mädchen wie Juniper schon bieten? Du bist immer noch so schwach. Nutzloses Fleisch, nichts weiter.«
»Ju… June …«, keuchte Giles.
Juniper sah zu ihrem Freund, der sich vergeblich gegen Skeksyls eisernen Griff wehrte und kaum noch Luft bekam, und etwas veränderte sich in ihr. Giles kämpfte für sie, und diese Gewissheit ließ die Antworten, die Skeksyl ihr anbot, völlig unwichtig erscheinen. Der schwache Junge erfüllte sie mit einer ihr bisher völlig unbekannten Kraft.
Während Skeksyl abgelenkt war, griff Juniper blitzschnell in ihre Tasche, zog den Ballon heraus, den Theodor ihr gegeben hatte, und tauschte ihn gegen den auf dem Tisch.
Ich suche mir lieber meine eigenen Antworten , dachte sie. Sie gefallen mir besser.
Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig. Kaum hatte Juniper wieder nach der Feder gegriffen, schoss Skeksyls Kopf zu ihr herum.
»Genug!«, rief er und stieß Giles zu Boden. »Unterschreib jetzt endlich!«
Während sich Giles auf dem Boden allmählich wieder erholte, setzte Juniper die Feder auf den normalen Ballon und unterschrieb mit ihrem vollen Namen.
Skeksyl grinste und kicherte wie verrückt. »Na also. Gutes Mädchen. Und jetzt bring es zu Ende.«
Juniper führte den Ballon an die Lippen und blies ihn auf, ohne Skeksyl aus den Augen zu lassen. Obwohl sein Gesicht wie üblich im Schatten der Kapuze verborgen war, konnte sie seinen gierigen Blick spüren. Er hatte lange auf diesen Moment gewartet, sich danach gesehnt.
Skeksyl riss ihr den Ballon aus der Hand, bevor sie ihn mit einem Band verschließen konnte. »Dein Atem wird am besten von allen schmecken«, zischte er. Seine spitze Zunge schoss aus dem Mund und fuhr über seine bleichen, aufgesprungenen Lippen. Seine Hände und sein ganzer Körper zitterten heftig. Bevor er weitermachen konnte, musste er sich mit einer Hand auf dem Tisch abstützen. Sein Atem wurde schneller und klang unnatürlich. Merkwürdige Geräusche kamen unkontrolliert aus seiner Kehle. Sein Lächeln wurde immer breiter.
Schließlich öffnete er hastig den Ballon, hielt ihn an seinen sabbernden Mund und atmete seinen Inhalt gierig ein.
Juniper und Giles sahen gleichzeitig entsetzt und gespannt zu. Die Luft rauschte aus dem Ballon und ließ ihn innerhalb weniger Sekunden zusammenschrumpfen. Skeksyls Hals pulsierte, während er Junipers süßen Atem trank. Er genoss jeden einzelnen Schluck.
Als der Ballon komplett leer war, lehnte er sich zurück und lächelte boshaft. Sein Körper wurde schlaff. Der Ballon glitt ihm aus der Hand und fiel zu Boden. »Ich werde von deiner Wärme erfüllt«, sagte er zu Juniper. »Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gekostet. So rein, so wahrhaftig.«
Stille senkte sich über den Raum. Juniper dachte fieberhaft nach, doch ihr fiel nichts mehr ein, was sie hätte tun können.
Plötzlich schoss Skeksyl nach vorn. Sein Körper wurde steif. Seine Hände, so starr wie Krallen, fuhren an seinen Hals. »Was … was hast du getan?« Er würgte und spuckte, gelber Schleim flog aus seinem Mund und landete zischend auf dem Holztisch. Unter dem Umhang schien sein Körper zu brodeln. Sein Stock polterte zu Boden, als Skeksyl auf die Knie fiel.
Neptun flog aufgeschreckt durch den Raum und krächzte wie noch nie, während sich sein Herr vor Schmerzen krümmte.
»Jetzt!«, rief Juniper. Giles rannte aus dem Raum und in die dunkle, verbotene Halle hinein. Doch bevor Juniper ihm folgte, nahm sie den gelben Ballon, auf dem das Wort Weisheit stand, hielt ihn vor Skeksyls im Schatten liegendes Gesicht und ließ ihn zerplatzen.

Juniper holte Giles mitten in der dunklen Halle ein. »June, du hast es geschafft! Ich habe gesehen, wie du die Ballons vertauscht hast. Woher wusstest du, dass das passieren würde?«, fragte er.
»Ich wusste es nicht«, antwortete sie. »Aber irgendeinen Grund musste es doch haben, dass Skeksyl speziell hergestellte Ballons benutzt, oder?«
»Einen Moment lang habe ich gedacht, du würdest unterschreiben.«
»Einen Moment lang habe ich das auch gedacht.«
Sie liefen durch die Halle, ohne zu wissen, was sie erwartete und wo die Ballons aufbewahrt wurden, doch Juniper fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Sie schwebte fast durch die erdrückende Dunkelheit. Wenn es heller gewesen wäre, hätte Giles das Lächeln auf ihrem Gesicht sehen können.
Die Halle schien kein Ende zu nehmen. Juniper fragte sich, unter welchem Teil der Erdoberfläche sie sich gerade befanden und was dort oben passierte. Vielleicht würde sie eines Tages genau über diese Stelle gehen, die ganze Welt würde ihr offen stehen, und die Schrecken, die darunterlagen, wären längst vergessen. Dort oben wartete so viel auf sie. Aber erst musste sie sich in Sicherheit bringen und ihre Eltern retten.
Als sie die Dunkelheit endlich hinter sich ließen, trauten sie ihren Augen kaum.
Vor ihnen erstreckte sich eine unterirdische Welt von überwältigender Größe. Von der riesigen Höhle, in der sie standen, gingen zahlreiche mit Fackeln beleuchtete Hallen in verschiedene Richtungen ab. Wendeltreppen schraubten sich in die Höhe und führten zu Löchern in der Decke und wer weiß wohin. Alles schien sich kilometerweit auszudehnen, ein unterirdisches Labyrinth von unglaublichen Ausmaßen, das sich in der Ferne verlor, ohne dass ein Ende in Sicht gewesen wäre.
»Was sollen wir tun?«, rief Giles. Seine Stimme hallte von den Höhlenwänden wider wie lautes Donnergrollen. »Wohin sollen wir gehen? Skeksyl wird bald kommen, um uns zu holen!«
»Keine Ahnung, ich weiß es nicht! Die Ballons können überall sein!« Juniper fühlte, wie sie von Panik erfasst wurde. Sie hatten nur einen einzigen Versuch, und wenn der schiefging … nein, sie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Frustriert und nervös hüpfte sie auf der Stelle, und da spürte sie es. Ihr Monokular. Schnell holte sie es hervor, zog es auseinander und hielt es vor ihr Auge.
Sie suchte die Unterwelt nach irgendeinem Zeichen ab, einem Hinweis, der sie auf die richtige Spur bringen würde. Doch jede Halle führte zu einer Treppe, ging in eine andere Halle über oder endete in einer Sackgasse. Einige der Hallen erstreckten sich so weit, dass sie endlos hätten sein können. Überall gab es Türen mit Holzschnitzereien, ähnlich wie die, hinter der Juniper Theodor gefunden hatte. Wenn sie jede Halle und jede Tür ausprobieren mussten, würde die Suche nach den Ballons eine Ewigkeit dauern. Plötzlich erschien alles furchtbar hoffnungslos.
Doch dann entdeckte Juniper etwas durch die Linse.
In der Mitte einer langen Halle glühte der Fußboden, und es sah so aus, als würde sich der Boden bewegen. Jede andere Halle, die sie durch das Fernrohr sah, glich der nächsten. Eine war wie die andere, nur diese eine nicht.
Das musste etwas bedeuten. Es war ihre einzige Spur. Also rannten sie los.
Das Glühen wurde mit jedem Schritt stärker, und als sie die Halle erreicht hatten, entdeckten sie unzählige Funken, die über den Boden schwirrten, ähnlich wie die in Theodors Raum. Sie flogen alle unter derselben mit Schnitzereien verzierten Tür hindurch.
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