Juniper kehrte in den nächsten drei Tagen sechsmal zum Baum zurück. Jeder Besuch verwirrte sie ein bisschen mehr. Etwas sagte ihr, sie solle in die Unterwelt zurückkehren und ihren Handel mit Skeksyl machen. Und plötzlich war es nicht mehr die Welt, auf die sie wütend war, sondern sie war wütend auf sich selbst. Warum musste sie so sein, wie sie war? Nirgendwo stand geschrieben, dass Juniper Berry ein trauriges, einsames Mädchen zu sein hatte, das von ihren Eltern vergessen wurde. Sie musste nicht abgeschottet von der Außenwelt leben. Sie konnte etwas dagegen tun.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Wenn ihre Eltern sie nicht mehr brauchten, dann musste sie eben jemand werden, den sie brauchten. Wenn sie sie kaum noch beachteten, musste sie jemand sein, den sie nicht länger ignorieren konnten. Jemand, den sie lieben würden. Jemand, den alle lieben würden. Dann würde sie nie wieder einsam sein.
Sie ging noch einmal zum Baum und legte die Hand auf den Stamm. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht mehr, was richtig ist.«
Neptun flatterte von seinem Ast herunter und setzte sich direkt über sie. Er klopfte mit dem Schnabel gegen den Stamm.
Ganz allmählich schob sich Junipers Hand zu der Stelle mit dem Zeichen. »Manchmal fühle ich mich, als würde die ganze Welt etwas wissen, das ich nicht weiß. Ich will doch nur irgendwo dazugehören. Ich will Eltern haben, denen ich nicht egal bin.«
Noch einmal pickte Neptun gegen den Baumstamm, die schwarzen Augen auf Juniper gerichtet.
Das Zeichen unter ihren Fingern schien zu glühen, es wollte unbedingt gedrückt werden, und Junipers Körper wurde von dieser Wärme erfüllt. Es fühlte sich so tröstlich an. Es machte den nächsten Schritt leicht.
Sie drückte auf die Stelle.
Noch einmal öffnete sich hinter dem Baum der Durchgang und lockte sie in die Tiefe. Neptun spielte wieder den Führer. Er flog an ihr vorbei, hinein in die Schwärze der Unterwelt.
Junipers Blick folgte dem Raben. Regungslos starrte sie in die Dunkelheit, in der er verschwunden war.
Warum fiel es ihr so schwer, den ersten Schritt zu tun? Am Ende der Treppe wartete ein neues Leben auf sie. Wieso zögerte sie?
Eine Minute später kam Neptun zurück, warf ihr einen auffordernden Blick zu und flog wieder nach unten. Sein Krächzen verklang nicht, hallte nicht wider, sondern erstarb.
Statt seines leiser werdenden Krächzens stieg nun eine Stimme aus der Dunkelheit zu ihr empor, Skeksyls Stimme. » Juniper! « Ein lockendes Echo aus der Tiefe. Seine Stimme zog und zerrte an ihr. » Juniper! «
Ihr Fuß berührte die erste Stufe. Sie war auf dem Weg.
» Juniper …«
Der zweite Schritt.
»Juniper!«
Eine Stimme ertönte hinter ihr. Sie fuhr herum und stieg die beiden Stufen schnell wieder hinauf, gerade noch rechtzeitig.
»Hallo, Juniper!« Dimitri kam mit Betsy über seiner breiten Schulter auf sie zu. »Wo ist Giles?« Er ließ die Axt in ihren gewohnten Baumstumpf sausen, wo sie schräg stecken blieb wie eine Sonnenuhr des Schicksals.
Juniper wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie stellte sich so hin, dass Dimitri die Öffnung hinter ihr nicht sehen konnte.
Dimitri lächelte. »Er ist nicht da, was? Wartest du auf ihn?«
»Nein … Ich … Ich hab mich nur gelangweilt.« Sie schaute zu den Stufen und bemerkte überrascht, dass sie verschwunden waren.
Dimitri sah ebenfalls zum Baum, sein Blick so scharf, dass er die Arbeit, die seine Axt begonnen hatte, ohne Weiteres mit seinen Augen hätte beenden können. »Weißt du, Juniper, ich beneide dich. Deine Welt ist ganz anders als die eines Erwachsenen. Du siehst die Dinge mit anderen Augen. Vielleicht so, wie sie sein sollten. Es ist so leicht, diesen Blick zu verlieren. Den meisten von uns passiert das irgendwann. Der Druck wird immer größer, und das lässt einen an allem zweifeln. Man verliert den Blick für die wirklich wichtigen Dinge.«
»Was ist wirklich wichtig? Wer meine Eltern sind? Oder das Haus, in dem wir leben?«
»Das sind nicht die Dinge, die dich ausmachen.«
Sie sah auf ihre Füße hinab. »Wahrscheinlich hast du recht. Es liegt nur an mir, ich bin selbst schuld.«
Dimitri schwieg eine Weile. »Ich sehe dich immer, wie du durch diese Ferngläser in die Welt schaust. Was siehst du dort draußen?«
»Ich sehe einen Ort, von dem ich nicht weiß, wie ich dorthin gelangen kann. Dinge, die ich nicht zu fassen bekomme.«
»Du darfst nicht verzweifeln, Juniper. Vertrau mir. Menschen wie du sind selten. Lass dich nicht erschüttern von dem, was du zu sehen glaubst. Es ist nicht das Fernglas, das dich zu einem besonderen Menschen macht, es sind die Augen dahinter. Vertrau ihnen. Sie sind die Fenster zu deiner Seele. Und bis jetzt haben sie dich nie im Stich gelassen.«
Juniper war sich nicht sicher, was Dimitri ihr sagen wollte. Wollte er sie warnen? Seine Worte schienen voller Weisheit zu sein, aber sie waren so unklar. Und nicht besonders tröstlich.

»Ich sollte jetzt besser weiterarbeiten.« Dimitri zog seine Axt aus dem Baumstumpf. »Ich hoffe, ich bin dir da drüben nicht im Weg.« Er zeigte auf ein paar in der Nähe stehende Bäume.
»Nein, natürlich nicht.« Finster drehte sich Juniper um und ging zurück zum Haus. »Ich habe so lange gewartet«, murmelte sie. »Ich kann auch noch länger warten.«
Und das tat sie. Mit Kitty neben sich saß sie an ihrem Zimmerfenster, beobachtete Dimitri durch ihr Monokular und wartete ungeduldig darauf, dass er Feierabend machte. Aber er arbeitete viel länger als sonst und blieb die ganze Zeit in der Nähe von Neptuns Baum. Als die Sonne unterging, hackte er immer noch Holz und warf ab und zu einen verstohlenen Blick über seine Schulter.
»Mach schon, hör endlich auf«, stöhnte Juniper.
Schließlich wurde der Himmel dunkel und Dimitri führte die letzten Axthiebe des Tages aus. Er ließ Betsy in ihren üblichen Ruheplatz sausen, fuhr sich über die Stirn, sah zum letzten Mal zum Haus hinüber und verließ das Grundstück.
»Na endlich!« Juniper sprang vom Bett, rannte in die Halle … und direkt in ihre Mutter hinein.
Völlig unbeeindruckt von dem Zusammenstoß sah Mrs. Berry auf Juniper herab, griff ihren Arm und zerrte sie zurück in ihr Zimmer.
Sie stieß Juniper auf das Bett. Kitty versteckte sich ängstlich unter der Decke.
»Ratte!«, zischte Mrs. Berry verächtlich, während sie zu Junipers Spiegel ging. Sie bewegte sich ruckartig, als würde sie unter Strom stehen. Ein Arm schoss nach unten, während die andere Schulter zur Decke zuckte. Ihr Kopf fiel nach hinten, ihre Beine knickten ein und ihre Finger krümmten sich zu Klauen. Sie musste sich an der Wand abstützen und brauchte fast eine Minute, um wieder zu Atem zu kommen.
Dann sah sie in den Spiegel und begann, die Haut über ihrem Gesicht straff zu ziehen, während sie leise mit sich selbst redete: »Ich halte das nicht mehr aus! Was ist mit mir passiert? Falten … mein Gesicht ist voller Falten … da ist eine, da ist noch eine … und diese Ringe unter den Augen … meine Lippen werden immer schmaler. Lieber Gott, ich bin hässlich!« Entsetzt drückte und fummelte sie weiter an ihrem Gesicht herum, zerrte an ihren Haaren, verzog den Mund und grunzte seltsam. Juniper verstand das nicht. Sie ist wunderschön , dachte sie.
Mrs. Berry drehte sich um und sah ihre Tochter verwirrt an. »Ju… Ju… Ju…«
»Juniper. Ich heiße Juniper.« Tränen traten in Junipers Augen. Es war, als würde jemand ihr Herz so platt walzen wie ein Blatt Papier oder die Luft herauslassen wie aus einem Ballon. Ihre Mutter hatte ihre Liebe hinter sich gelassen und all ihre gemeinsamen Erinnerungen. Jetzt hatte sie sogar ihren Namen vergessen.
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