»Ist bei dir alles klar?«
Schritte sind hinter dem Vorhang zu hören. Dann zieht eine Hand den Stoff zurück, und Pilips Gesicht zeigt sich – verzerrt vor Aufregung. »Schnappt euch eure Sachen! Wir haben gerade einen Sechser im Lotto!«
Philip führt die Gruppe durch den dunklen Flur, vorbei an Regalen voller Spielzeug und Brettspiele. Sie treten durch eine Sicherheitstür, die bei der Flucht des Ladeninhabers wahrscheinlich offen gelassen wurde. Es folgt ein weiterer schmaler Korridor, der von Philips Taschenlampe dürftig beleuchtet wird, bis sie zu einem Notausgang kommen. Die Metalltür steht einen Spalt breit offen. Sie können einige Schatten im Flur auf der anderen Seite ausmachen.
»Schaut euch an, was sich hinter diesem Laden befindet.« Philip tritt gegen die Tür. »Unser Fahrschein aus dieser verdammten Hölle.«
Die Tür schwingt auf, und Brian sieht nichts weiter als einen weiteren Flur, der genauso aussieht wie der, den sie gerade durchlaufen haben.
Am anderen Ende befindet sich eine weitere Metalltür, die ebenfalls offensteht. Brian lugt hindurch und erkennt in der Dunkelheit eine Reihe glänzender Speichen. »Wahnsinn«, stammelt er. »Sehe ich da richtig?«
Der Raum ist riesig – er umfasst das gesamte Erdgeschoss des angrenzenden Gebäudes – und auf drei Seiten mit Sicherheitsglas ausgestattet. Durch die Fenster kann man die Straßenecke sehen, an der schemenhafte Gestalten ziellos durch die Gegend stolpern. Aber hier, in der blitzsauberen Welt des Champion Cycle Centers, Atlantas erster Adresse für alles, was Motorräder angeht, ist es warm, aufgeräumt und auf Hochglanz poliert.
Der Ausstellungsraum scheint von der Plage unberührt geblieben zu sein. Das schwache Tageslicht, das durch die riesigen Scheiben dringt, beleuchtet vier lange Reihen unterschiedlicher Motorräder, die sich durch die gesamte Länge der Halle erstrecken. Es riecht nach Gummi, geöltem Leder und fein geschliffenem Stahl. An den Seiten ist die Halle mit Teppichboden ausgelegt, auf dem das Logo des Champion Cycle Centers zu sehen ist – wie in einem Fünfsternehotel. Stromlose Leuchtreklamen hängen an mehreren Stellen von der Decke und preisen die verschiedenen Hersteller an: Kawasaki, Ducati, Yamaha, Honda, Triumph, Harley-Davidson und Suzuki.
»Glaubst du, dass in irgendeinem dieser Bikes Benzin ist?«, fragt Brian und dreht sich staunend um die eigene Achse.
»Unglaublich, was, Junge?« Philip weist mit dem Kopf über die Motorräder, die Verkaufstheke und Tische hinweg zu Regalen, die von oben bis unten mit Ersatzteilen voll sind. »Dahinten gibt es eine Werkstatt und eine Garage … Da finden wir schon, was wir brauchen.«
Penny starrt emotionslos auf die Auswahl von fahrbaren Untersätzen. Auf dem Rücken trägt sie ihren neuen Hello-Kitty-Rucksack.
Brians Kopf dreht sich. Unterschiedlichste Gefühle wallen in ihm auf: Aufregung, Angst, Hoffnung und Panik. »Da gäbe es nur ein Problem …«, beginnt er leise. Die erneute Verunsicherung lastet schwer auf ihm.
Philip blickt seinen Bruder an. »Was soll denn jetzt schon wieder ein Problem sein?«
Brian fährt sich über den Mund. »Ich habe keine Ahnung, wie man so ein Ding fährt.«
Die anderen lachen laut auf. Es war an der Zeit, etwas Dampf abzulassen, und die allgemeine Nervosität schwingt hörbar mit. Aber sie lachen. Wenn auch nur über Brian. Philip versichert seinem Bruder, dass es nicht das Geringste ausmache, ob er jemals auf einem Motorrad gesessen habe oder nicht. Denn selbst ein Idiot könne so etwas innerhalb von zwei Minuten lernen. Sowohl Philip als auch Nick hatten zudem jahrelang eines besessen, weshalb Brian und Penny problemlos bei den beiden mitfahren können. Sie müssen sich nur entscheiden, wer bei wem hintendraufsitzt.
»Je schneller wir aus Atlanta rauskommen, desto bessere Chancen haben wir«, verkündet Philip kurz darauf, während er sich durch die Hosen, Jacken und Kombianzüge aus Leder und sonstiges Zubehör in der Nähe der Verkaufstheke wühlt. Er zieht eine braune Harley-Jacke und schwere schwarze Motorradstiefel hervor. »Ich schlage vor, dass jeder aus seinen nassen Klamotten steigt und in fünf Minuten fertig zur Abfahrt ist. Brian, du hilfst Penny.«
Sie wechseln die Kleidung. Der Regen draußen lässt immer mehr nach.
»Siehst du, wie sich die Beißer da draußen sammeln?«, flüstert Nick Philip zu. Nick trägt bereits trockene Klamotten und schließt den Reißverschluss seiner schwarzen Lederjacke. Er nickt in Richtung der Schaufensterfront. »Ein paar von denen sind schon ganz schön weit fortgeschritten.«
»Und?«
»Na ja, manche sind vielleicht schon drei oder vier Wochen alt.«
»Wenn nicht mehr.« Philip lässt sich das durch den Kopf gehen, während er seine nasse Jeans auszieht. Die Unterwäsche klebt an seinem Körper, und er hat fast Schwierigkeiten, sich herauszupellen. Er wendet sich von Penny ab, damit sie ihn nicht nackt sieht. »Das Ganze fing vor mehr als einem Monat oder so an … Was willst du damit sagen?«
»Sie verwesen.«
»Was?«
Nick senkt die Stimme weiter, damit ihn Penny nicht hören kann. Sie ist gerade dabei, einen etwas zu kleinen Wintermantel anzuziehen. Brian hilft ihr dabei und versucht, ihn zuzumachen. »Denk mal nach, Philly. Die Natur hat es so eingerichtet, dass ein toter Körper innerhalb eines Jahres zu Staub wird.« Er spricht jetzt noch leiser. »Insbesondere einer, der den Elementen ausgesetzt ist.«
»Was willst du damit sagen, Nick? Dass wir nur Tee trinken und abwarten müssen? Dass wir die Arbeit den Maden überlassen sollen?«
Nick zuckt mit den Achseln. »Na ja. Ich habe laut nachgedacht …«
»Nun pass mal auf, mein Freund«, sagt Philip. »Hör mir mit deinen verdammten Thesen auf.«
»Ich wollte doch nur …«
»Die verschwinden nicht einfach so, Nicky. Schreib dir das hinter die Ohren. Ich will nicht, dass meine Tochter deine Thesen hört. Die ernähren sich von Lebenden, und sie vermehren sich, und wenn sie verrotten, wird es neue Beißer geben, die an ihre Stelle treten. Wenn wir etwas von der Sache mit dem alten Mann Chalmers gelernt haben, dann braucht man nicht erst gebissen zu werden, um so zu enden. Das heißt, dass das Ende der Welt gekommen ist. Also wach auf, Junge. Es ist später, als du denkst.«
Nick senkt den Blick. »Ist gut, Mann … Verstehe … Du kannst dich wieder abregen, Philly.«
Mittlerweile hat es Brian geschafft, Pennys Mantel zuzumachen. Er nimmt sie an der Hand, und die beiden gehen zu Philip und Nick hinüber. »Wir sind so weit.«
»Wie spät haben wir es?«, fragt Philip seinen Bruder, der in seiner zu großen Harley-Jacke etwas lächerlich aussieht.
Er blickt auf die Uhr. »Kurz vor zwölf.«
»Gut … Das heißt, wir haben sechs, vielleicht sieben Stunden Tageslicht, um diese verdammte Höllenstadt endlich hinter uns zu lassen.«
»Habt ihr euch eure Motorräder schon ausgesucht?«, fragt Brian.
Philip schenkt ihm ein herablassendes Lächeln.
Sie suchen sich zwei der größten Motorräder im ganzen Laden aus: zwei Harley-Davidson Electra Glides, eine in Graublau und die andere in Mitternachtsschwarz. Sie sind nicht nur groß und schwer, sondern strotzen vor Zugkraft, haben breite Sitze, bieten sogar etwas Stauraum und vor allem – es sind verdammte Harleys! Philip will Penny mitnehmen, sodass Brian bei Nick aufsteigt. Die Tanks sind zwar leer, aber in der Werkstatt stehen genügend Motorräder mit Sprit herum. Sie zapfen das Benzin ab und füllen die Harleys bis obenhin auf.
Es dauert eine Viertelstunde, bis die Motorräder startbereit sind, sie sich passende Helme ausgesucht und ihre Taschen festgezurrt haben. Mittlerweile geht es auf der Straße vor dem Motorradladen geradezu hektisch mit Untoten zu. Hunderte von Beißern drängeln sich auf der Kreuzung und wandern ziellos im grauen Nieselregen umher. Manche knallen gegen das Sicherheitsglas und ächzen vor sich hin, während schwarzer Speichel aus ihren Mündern fließt. Ihre zinngrauen Augen starren gierig auf die beweglichen Schatten hinter dem Sicherheitsglas des Champion Cycle Centers.
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