»Philip, was ist in Atlanta passiert?«
Brian sitzt an einem Picknicktisch, der auf einer kleinen Grasfläche hinter den Toilettenhäuschen steht. Philip tigert vor ihm auf und ab und nimmt immer wieder einen Schluck aus der Evian-Flasche, die er aus einem Verkaufsautomaten genommen hat. Er blickt zu Nick und Penny hinüber, die ein Stück entfernt auf einem verwahrlosten Kinderspielplatz spielen. Penny sitzt auf einem kleinen Karussell unter einer kranken Eiche, und Nick schiebt sie an. Das Mädchen wirkt freudlos und starrt vor sich hin, während es sich im Kreis dreht.
»Ich habe mich doch klar und deutlich ausgedrückt. Ich will nicht darüber reden«, knurrt Philip.
»Ich glaube aber trotzdem, dass du mir eine Antwort schuldig bist.«
»Ich bin niemandem etwas schuldig.«
»Irgendetwas ist passiert, und zwar an jenem Abend oder in der Nacht«, drängt Brian weiter. Er hat keine Angst mehr vor seinem Bruder. Ein Ausbruch von Gewalt zwischen den beiden Blake-Brüdern scheint wahrscheinlicher als je zuvor, aber das lässt Brian kalt. Etwas ist mit ihm passiert, etwas Grundlegendes wie eine seismische Verschiebung. Wenn Philip ihn erwürgen will, dann soll es eben so sein. »War es etwas zwischen dir und April?«
Philip wird auf einmal ruhig und senkt den Blick. »Na und? Was würde das für einen Unterschied machen?«
»Das würde einen Riesenunterschied machen – jedenfalls für mich. Unser Leben steht hier auf dem Spiel. In der Wohnung standen unsere Chancen noch recht gut. Und nun hat sich das Ganze einfach in Luft aufgelöst …«
Philip blickt auf. Seine Augen sind jetzt auf Brian gerichtet. »Brian, lass es gut sein«, sagt er mit drohender Stimme.
»Verrate mir noch eines. Du warst doch so scharf darauf, von dort wegzukommen. Hast du auch einen Plan, wie es weitergehen soll?«
»Was?«
»Hast du so etwas wie eine Strategie? Irgendeine Idee, was als Nächstes kommen soll?«
»Was soll das? Bist du auf einmal Touriführer geworden oder was?«
»Was ist, wenn es wieder mehr Beißer werden? Wir haben kaum etwas anderes als unsere Fäuste, um sie zu bekämpfen.«
»Dann finden wir eben etwas.«
»Philip, was hast du mit uns vor?«
Philip wendet sich ab und schlägt den Kragen seiner Lederjacke hoch. Er starrt auf den Highway, der sich durch die Landschaft nach Westen bis zum Horizont hochschlängelt. »Noch einen Monat oder so und der Winter kommt. Ich bin dafür, dass wir weiter nach Südwesten fahren … Bis zum Mississippi.«
»Und was sollen wir da?«
»Von dort ist es einfach, nach Süden zu gelangen.«
»Und?«
Philip dreht sich um und fixiert Brian finster. In seinem tief gezeichneten Gesicht spiegelt sich eine Mischung aus Entschlossenheit und Verzweiflung wider, als ob er gar nicht an das glauben würde, was er sagt. »Wir finden schon einen Ort, an dem wir uns niederlassen können und zwar dauerhaft. Im Warmen. Wie Mobile oder Biloxi, vielleicht sogar New Orleans … Ich weiß noch nicht. Irgendwo, wo es angenehm ist.«
Brian stöhnt erschöpft auf. »Das hört sich so einfach an. Wir müssen nur nach Süden.«
»Wenn du einen besseren Plan hast, würde ich ihn gerne hören.«
»Ein langfristiger Plan ist ein Luxus, den ich mir schon lange nicht mehr leiste.«
»Wir schaffen das.«
»Wir müssen uns um Essen kümmern, Philip. Ich mache mir Sorgen um Penny. Sie muss etwas Vernünftiges in den Bauch bekommen.«
»Penny ist meine Tochter. Die Sorgen um sie kannst du mir überlassen.«
»Sie rührt nicht einmal einen Kuchen mit Cremefüllung an. Kannst du das verstehen? Ein Kind, das keinen Kuchen mag! Wo gibt es denn so was?«
»Kuchen! Das ist doch lächerlich«, knurrt Philip. »Würde ich an ihrer Stelle auch nicht. Wir finden schon etwas. Penny schafft das. Die Kleine ist zäh … wie ihre Mutter.«
Da hat er recht, denkt Brian. Bisher hat sich die Kleine verdammt gut über Wasser gehalten. Insgeheim ist sich Brian nicht einmal sicher, ob sie nicht diejenige ist, die ihre Gruppe zusammenhält und die Männer davon abhält, sich gegenseitig kaputt zu machen.
Er wirft einen Blick auf Penny. Verträumt fährt sie auf dem rostigen Karussell im Kreis. Nick hat keine Lust mehr, sie weiter anzuschieben und gibt dem Karussell stattdessen ab und zu nur einen Tritt.
Hinter dem Spielplatz hebt sich die Landschaft zu einer mit Bäumen bewachsenen Kuppe, auf der in der blassen Sonne ein kleiner, dem Wind ausgesetzter Friedhof liegt.
Penny und Nick reden ein wenig miteinander. Brian hat den Eindruck, als ob sie ihn über etwas ausfragen würde. Er wundert sich, was es sein könnte, denn die Kleine macht einen besorgten Eindruck.
»Onkel Nick?« Pennys kleines Gesicht ist vor Sorge ganz starr. Langsam dreht sie auf dem Karussell ihre Runden. Sie nennt Nick schon seit Jahren »Onkel«, obwohl sie weiß, dass er in Wirklichkeit nicht ihr Onkel ist. Die Bezeichnung hat in Nick schon immer etwas wie Sehnsucht ausgelöst – die Sehnsucht, dass er irgendwann einmal vielleicht ein richtiger Onkel wird.
»Ja, Kleines?« Ein bleiernes Gefühl legt sich auf Nick Parsons’ Gemüt, während er das Karussell geistesabwesend immmer wieder mal anschiebt. Er kann die Brüder Blake im Augenwinkel sehen. Sie scheinen sich zu streiten.
»Ist Daddy sauer auf mich?«, fragt Penny.
Nick versteht nicht, was sie meint. Das Mädchen starrt auf den Boden, während es langsam im Kreis herumfährt. Nick wählt seine Worte mit Bedacht. »Natürlich nicht. Er ist nicht sauer auf dich. Was hat dich denn auf diese Idee gebracht?«
»Er redet nicht mehr so viel wie früher mit mir.«
Nick bremst das Karussell langsam ab, bis es steht. Penny schaukelt jetzt mit dem Kopf vor und zurück. Nick klopft ihr sanft auf die Schulter. »Hör zu. Ich verspreche dir, dass dich dein Daddy mehr als alles andere auf der Welt liebt.«
»Ich weiß.«
»Er hat nur gerade sehr viel um die Ohren. Deshalb ist er so.«
»Glaubst du nicht, dass er sauer auf mich ist?«
»Nie und nimmer. Er hat dich sehr lieb, Penny. Das kannst du mir glauben. Er hat nur … nur viel um die Ohren.«
»Ja … Kann sein.«
»Wir alle haben viel um die Ohren.«
»Ja.«
»Ich bin mir sicher, dass keiner von uns in letzter Zeit viel geredet hat.«
»Onkel Nick?«
»Ja, Süße?«
»Glaubst du, dass Onkel Brian sauer auf mich ist?«
»Um Gottes willen, nein. Warum in aller Welt sollte Onkel Brian sauer auf dich sein?«
»Vielleicht, weil er mich die ganze Zeit durch die Gegend tragen muss?«
Nick lächelt traurig. Er mustert ihre Miene, ihre sorgenvoll gerunzelte Stirn und streichelt ihr über die Wange. »Jetzt hör mir mal zu. Du bist das mutigste kleine Mädchen, das mir je über den Weg gelaufen ist. Und das sage ich nicht einfach so. Du bist eine Blake … Und darauf kannst du stolz sein.«
Sie denkt über seine Worte nach, und ein Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. »Weißt du, was ich tun werde?«
»Nein, Liebes. Verrat es mir.«
»Ich werde die kaputten Puppen wieder heil machen. Du wirst schon sehen. Ich werde sie alle wieder gesund machen.«
Nick lächelt sie an. »Das ist ein prima Plan.«
Er fragte sich schon, ob er das kleine Mädchen jemals wieder fröhlich erleben würde.
Einen Augenblick später sieht Brian Blake aus dem Augenwinkel, wie sich etwas auf der anderen Seite der Raststätte zwischen den Picknicktischen bewegt. In hundert Meter Entfernung, hinter der Raststätte inmitten der zerfallenen Grabsteine mit ihren verblassten Inschriften und kaputten Plastikblumen braut sich etwas zusammen.
Brian starrt auf die drei Gestalten in der Ferne, die jetzt aus dem Schatten der Bäume treten. Unsicher stolpern sie auf Brian und die anderen zu – wie träge Bluthunde, die ihre Beute aufgespürt haben. Es ist schwer, es aus dieser Entfernung genau einzuschätzen, aber ihre Kleider machen den Anschein, als ob sie aus Versehen in einen Mähdrescher geworfen worden wären. Ihre Münder stehen in immerwährender Qual offen.
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